„[…] für das deutsche Vaterland“?! – Eine Kritik der deutschen Nationalhymne

vom kollektiv_textegegendienation

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Allzu gut kann ich mich an diesen absurden Moment im Musikunterricht erinnern, als wir unser Liederbuch aufschlagen sollten und plötzlich ging es auch schon los und die Klasse sang die deutsche Nationalhymne. Ich hatte nicht erwartet, dass dieses Lied in jenem Kontext in meinen Ohren ertönen würde und vielleicht konnte ich auch nicht verstehen, dass die Mehrheit das Unbehagen, welches ich ganz deutlich fühlte, nicht zu spüren schien. Eine kritische Auseinandersetzung blieb in diesem Unterricht aus. Anlass genug, um sich im Folgenden mit der Entstehung und der Bedeutung der deutschen Hymne zu beschäftigen.

Die heutige deutsche Nationalhymne bildet sich aus der dritten Strophe des Deutschlandliedes (auch: Lied der Deutschen) von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, welches er 1841 dichtete. Das Lied bringt den Wunsch nach nationaler Einheit zum Ausdruck und lässt sich somit in die Einheits- und Freiheitsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen, die aus der napoleonischen Herrschaft entstanden war. Joseph Haydn komponierte die Melodie, die zuvor für die österreichische Kaiserhymne genutzt wurde[1]. Erst in der Weimarer Republik wurde das Lied durch den Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) im Jahre 1922 als Nationalhymne deklariert, nachdem es im Deutschen Reich an Popularität gewonnen hatte. Im Nationalsozialismus wurde die erste Strophe des Deutschlandliedes und anschließend das Horst-Wessel-Lied als Hymne gesungen. Horst Wessel (NSDAP) war zur Zeit der Weimarer Republik „Truppführer“ der SA[2] in Friedrichshain (Berlin). Nachdem er 1930 von Albrecht Höhler (KPD) getötet wurde, wurde Wessel zum Märtyrer gemacht und propagandistisch instrumentalisiert, was sich unter anderem darin zeigt, dass sein selbst getextetes Lied (zuvor Kampflied der SA) bei öffentlichen Veranstaltungen ertönte[3]. Heutzutage fällt das Host-Wessel-Lied unter die Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Das Singen ist somit strafbar; anders die Handhabe mit dem Deutschlandlied, welches vollständig gesungen werden darf[4]. Doch auch die erste Strophe des Liedes der Deutschen eignete sich beispielsweise durch Zeile 1 und 2: „Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt“, besonders gut zur Rechtfertigung der deutschen Expansions- und Vernichtungspolitik. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kontroverse Debatten um die Nationalhymne der BRD. Der Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sowie Oppositionsführer Kurt Schuhmacher (SPD) setzten sich für das Deutschlandlied als Nationalhymne ein. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss (FDP), der 1950 eine neue Hymne komponieren ließ, die allerdings wenig Zuspruch erfuhr, konnte nach einem Briefwechsel mit Adenauer überzeugt werden und so wurde schließlich 1952 das Deutschlandlied als Hymne beschlossen. Zu öffentlichen Anlässen sollte man sich jedoch mit der dritten Strophe begnügen. Nach der Wende 1989/90 wurde mit der Veröffentlichung eines Briefwechsels zwischen dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) und dem Kanzler Helmut Kohl (CDU) im Jahr 1991 beschlossen, dass die dritte Strophe des Deutschlandliedes die gesamtdeutsche Nationalhymne werden sollte[5]. Dem gingen Diskussionen über die Verschmelzung des Liedes der Deutschen mit der Nationalhymne der DDR (Auferstanden aus Ruinen) voraus. Die dritte Strophe des Deutschlandliedes ist mittlerweile fester Bestandteil des geeinten Deutschlands, was beispielsweise das Singen im Musikunterricht in der Schule, bei Feierlichkeiten wie dem Tag der deutschen Einheit, Staatsbesuchen oder die Präsenz bei Sportveranstaltungen zeigt.

Doch bei all dem Wirbel um das Lied, kann sich gefragt werden: Wozu das Ganze überhaupt? Die Nationalhymne stellt ein nationales Symbol dar. Sie soll ein Lied für Menschen einer gemeinsamen Sprache, mit gemeinsamer Kultur, Geschichte und Herkunft verkörpern. Nationalhymnen lösen bei den Singenden oft heftige Erregtheit und Leidenschaft aus, die mit der geschaffenen kollektiven Identität und dem beschworenen Nationalcharakter zusammenhängen. Sie ist in der Lage ihnen ein Gefühl der Gemeinschaft zu geben, welche real betrachtet in der Form nicht existiert, sondern nur in dem Moment des Singens an Wahrheit zu gewinnen scheint und sich dadurch behauptet und weiter manifestiert. Die Betonung des Gemeinsamen stellt somit immer auch ein Bild dessen dar, was und wer nicht dazugehören soll, sei es das Gegenteil des Gesungenen, Menschen, welche die gemeinsame Herkunft und Sprache nicht teilen oder Personen, die sich aus anderen Gründen mit der geschaffenen Identität nicht identifizieren können oder wollen. Nationale Zeichen implizieren aufgrund ihrer Begrenztheit immer auch Ausschluss. Mit der geschaffenen Wir-Situation geht automatisch ein „Ihr“ einher. Dies ist beispielsweise bei Länderspielen im Fußball zu beobachten, bei denen Nationalhymnen gesungen werden und Fremdenfeindlichkeit und Rassismus der Beteiligten gegen die gegnerischen Mannschaften aus anderen Ländern dominieren. Das Individuum als solches tritt bei den Anfeindungen in den Hintergrund und die Zugehörigkeit zu einer Nation wird als ausschlaggebendes Merkmal konstituiert. Auch der Text ist nicht wahrhaftig. Zwänge und soziale Ungleichheiten, die mit der Struktur eines Staates wie er heute vorhanden ist einhergehen, werden ignoriert; die nationale Gemeinschaft hingegen glorifiziert. Durch den Nationalismus wird die Bevölkerung als homogene Einheit deklariert und nationale Interessen als persönliche dargestellt[6]. Herrschaft soll durch die Nationalhymne Legitimation finden. Der Staat sichert dahingehend seine Souveränität ab: „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften […] die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“[7]. Eine gefühlte und reale Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen kann durch das Besinnen auf die Nation überschattet und kompensiert werden[8]. Aus diesen Gründen werden Nationalhymen von völkischen und chauvinistischen Gruppierungen und Personen aufgegriffen. So zum Beispiel von der Partei AfD, die am 4. Mai 2019 beim „Süddeutschen Treffen“ des Flügels um Björn Höcke in Bayern die ersten beiden Strophen des Deutschlandliedes mitsang, was medial kurz Aufsehen erregte[9]. Von Bedeutung war das vollständige Lied der Deutschen ebenso in der im Jahre 2009 unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“[10]. Die dort indoktrinierten Kinder sollten am Ende eines jeden Lagers die sogenannte „Pimpfenprüfung“[11] bestehen, bei der unter anderem das Vortragen aller drei Strophen des Deutschlandliedes gefordert war, wie die Aussteigerin Heidi Benneckenstein berichtet.“[12] Auch vor antisemitischen Abwandlungen bleibt das Lied der Deutschen nicht verschont, was sich beispielsweise am 17. Oktober 2019 äußerte, als eine 21jährige Person in Berlin Mitte eine solche sang und den Hitlergruß zeigte[13].

Trotz der Reduzierung des Deutschlandliedes auf die dritte Strophe für die deutsche Hymne, gehören diese Zeilen zum Lied der Deutschen und können somit nicht von ihrem Kontext und der historischen Verwendung im Nationalsozialismus getrennt werden. Die deutsche Nationalhymne kann deshalb als Symbol für den Mangel an einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Bedeutung eines Deutschlands nach 1945 gesehen werden. Auch Änderungen im Namen der Geschlechtergerechtigkeit wie sie Kristin Rose-Möhring (SPD) 2018 vorgeschlagen hat, das Wort „Vaterland“ in „Heimatland“ und „brüderlich“ in „couragiert“ umzuwandeln sind bezeichnend[14]. Diese Debatten führen dazu, dass das eigentliche Problem, als da wären das Besinnen auf die Nation, das vermeintlich „Eigene“, die „Heimat“ und die daraus entstehende Deutschtümelei, verkannt wird und lediglich Redewendungen in die Kritik geraten, aber nicht der Gegenstand als solches. Die deutsche Nationalhymne gilt es zu kritisieren, denn auch wenn sie eines Tages weniger patriarchal klingt oder ihr kurzzeitig in ihrer Entstehung ein befreiendes Moment anhaftete: Sie bleibt in ihrer Folge ein nationalistisch aufgeladenes Symbol, welches dazu dient den herrschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten und reaktionär zu wirken.

[1] Dorlis Blume, Lemo Lebendiges Museum Online, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1874, 2014, (URL: https://www.dhm.de/lemo/biografie/biografie-august-heinrich-hoffmann-von-fallersleben.html) (letzter Zugriff: 12.05.2020)
[2] Die Sturmabteilung (SA) war eine gewalttätige Kampftruppe, die 1921 entstand und sich nach ihrem Verbot aufgrund des misslungenen Hitler-Putsches (1923) im Jahre 1925 in die neu gegründete NSDAP eingliederte. Sie agierte gegen Jüdinnen*Juden und politische Gegner*innen.
[3] Bernd Kleinhans, Arbeitskreis Zukunft braucht Erinnerung, Horst Wessel (1907–1930), 2006, (URL: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/horst-wessel/) (letzter Zugriff: 12.05.2020)
[4] Christoph Drösser, Zeit Online, Lied der Deutschen,2006, (URL: https://www.zeit.de/2006/28/Stimmt-s_P-28) (letzter Zugriff: 03.06.2020)
[5] Deutscher Bundestag, Die Nationalhymne, (URL: https://www.bundestag.de/parlament/symbole/hymne/hymne-197462) (letzter Zugriff: 11.04.2020)
[6] Thorsten Mense, Eine Ideologiekritik des Nationalismus, 2018, (URL: https://www.youtube.com/watch?v=23gq5DeFz70) (letzter Zugriff: 03.06.2020)
[7] Strafgesetzbuch, § 90a Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole Abs. 1 Nr. 2, Beck-Texe im dtv, 2018,S.73
[8] Thorsten Mense, Eine Ideologiekritik des Nationalismus, 2018, (URL: https://www.youtube.com/watch?v=23gq5DeFz70) (letzter Zugriff: 03.06.2020)
[9] Fabian Schroers, belltower.news, Björn Höcke, Bodo Ramelow und das „Lied der Deutschen“, 2019, (URL: https://www.belltower.news/debatte-um-nationalhymne-bjoern-hoecke-bodo-ramelow-und das-lied-der-deutschen-84885/) (letzter Zugriff: 03.06.2020)
[10] Oliver Das Gupta, Süddeutsche Zeitung, „In der HDJ steckt viel NPD“, 2009, (URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/heimattreue-deutsche-jugend-in-der-hdj-steckt-viel-npd-1.392292) (letzter Zugriff: 02.07.2020)
[11] Im Nationalsozialismus wurden alle 10 bis 14-Jährigen Anhänger des Deutschen Jungvolks als „Pimpfe“ bezeichnet.
[12] Heidi Benneckenstein, Ein deutsches Mädchen Mein Leben in einer Neonazi-Familie, Tropen, Stuttgart 2017, S. 70
[13] Tilman Bärwolff jungle.world, Deutsches Haus #43, 2019, (URL: https://jungle.world/artikel/2019/43/deutsches-haus-43) (letzter Zugriff: 06.05.2020)
[14] Der Tagesspiegel, „Heimatland“ statt „Vaterland“?, 2018, (URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/deutsche-nationalhymne-heimatland-statt-vaterland/21030122.html) (letzter Zugriff: 11.04.2020)