Von Äpfeln und Birnen

Oder warum die DDR nicht mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen ist

Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie heute existiert, mit dem Mauerfall, dem Ende der DDR und schließlich der „Wiedervereinigung“, lernen wir in der Regel als demokratische Erfolgsgeschichte kennen – als Sieg der Friedlichen Revolutionäre über die letzte Deutsche Diktatur oder auch als überwindung der beiden „totalitären Regime“ des 20. Jahrhunderts. Auffällig ist: die Erzählung vom Ende des deutschen Staatssozialismus1 scheint nicht ohne den Bezug auf „die andere deutsche Diktatur“ auszukommen – den Nationalsozialismus.
In der Schule allzu oft sehr unkritisch nebeneinandergestellt, am liebsten in Form einer Vergleichstabelle mit zwei Spalten – links die Merkmale des „roten Terrors“ rechts die Merkmale des „braunen Terrors“ – von historischen Museen plastisch auf einen Nenner gebracht – sich zwei gegenüberstehende Schaufensterpuppen in Kindergröße, eine mit blauem Pionierhalstuch, ihr in die Augen starrend; die andere in der braunen Uniform der Hitlerjugend – in ostdeutschen Stadtbildern gleichermaßen „pfiffig“ im öffentlichen Raum kritisiert – die Plastik eines in sich zusammengesunken Männchens, am linken Arm eine rote Armbinde, die Hand zur Faust geballt, der rechte Arm gereckt zum Hitlergruß2 – das Verhältnis zwischen den beiden historischen Zeitabschnitten, denen, zumindest auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, am meisten erinnert und gedacht wird, scheint sich in der Meinung der breiten Mehrheit irgendwo zwischen strukturell ähnlich bis hin zu gleichbedeutend zu bewegen.

Während ersteres bereits methodisch strittig ist, muss letzterem in jedem Fall klar widersprochen werden. Die Grenzen vom einen zum anderen sind dabei fließend: so können die zwei Schaufensterpuppen, die auf einen Vergleich der zwei Jugendorganisationen abzielen, zwar sehr bildlich deutlich machen, dass beiden Systeme die Massenmobilisierung von Kindern und Jugendlichen zu eigen war. Was eine solche Darstellung aber definitiv nicht leisten kann, ist, über die sehr leicht getroffene Feststellung, in beiden Systemen habe Uniformierung und Militarisierung junger Menschen stattgefunden, hinauszukommen. Welche Weltbilder dem zugrunde lagen, wird komplett ausgespart. Stattdessen wird die Vorstellung nahegelegt, es handele sich um zwei gleichermaßen autoritär-militärische Systeme. Was also vielleicht als anschaulicher Vergleich gelabelt wird, kann unter diesem Gesichtspunkt auch als klare Gleichsetzung gewertet werden.

Warum allerdings genau das problematisch ist, soll im folgenden Text kurz dargelegt werden. Im Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Jahre 1989/90 in Deutschland und den Feierlichkeiten dazu, ist es dringend notwendig, sich mit der Grundhaltung, die in diesem Vergleich mitschwingt und dem Ziel, welches der Gleichsetzung zu eigen ist, zu beschäftigen.

Vorneweg sei gesagt, dass ein antinationales und autoritätskritisches Verständnis, wie es uns als Autor*innenkollektiv dieses Zines zugrunde liegt, selbstverständlich verlangt, die DDR als autoritären Staat grundsätzlich zu kritisieren. Keineswegs soll hier unterschlagen werden, dass es sich bei der DDR um einen Staat handelte, der über ein perfides überwachungs- und Bespitzelungssystem verfügte, innerhalb dessen Menschen um Freiheiten kämpfen und dafür teilweise mit ihrem Leben bezahlen mussten.3 Die DDR war eine extrem träge Einparteiendiktatur, die strafend auf kleine Unstimmigkeiten reagierte und die Niederschlagung freiheitlicher Bewegungen unterstütze.4 Und dennoch darf sie nicht mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gleichgesetzt werden – nicht zuletzt weil dies auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem DDR Regime selber verhindert.

Der Drang, genau diese beiden Regierungen in eine Relation zueinander zu setzen, geht auf eine Idee zurück, die sich ursprünglich eigentlich nicht auf den Nationalsozialismus und die DDR, sondern auf die frühe Sowjetunion und den italienischen Faschismus bezog: die Totalitarismustheorie.

In den 1920er Jahren in Italien von katholischen Antifaschisten formuliert, um die neue Herrschaftsform Faschismus, wie sie sich unter Mussolini herausgebildet hatte, zu verstehen, wurden damit verschiedene, sich zeitgleich entwickelnde Ideologien unter dem Begriff „totalitär“ zusammengefasst. Zu den Charakteristika dieser totalitären Gesellschaftsformen gehörten in dieser Analyse unter anderem ein Einparteiensystem, die Unterdrückung bürgerlicher Freiheitsrechte, eine Geheimpolizei, die Militarisierung der Gesellschaft, eine zentralisierte Jugenderziehung und die Indoktrination durch staatlich vereinnahmte Massenmedien. Später, in den 1950er Jahren, wurde die Theorie von der in die USA emigrierten deutsch-jüdischen Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt weiterentwickelt.5 Sie wiederum verengte den Totalitarismusbegriff auf die stalinistische Sowjetunion6 und den Nationalsozialismus. Während Arendt in ihrer Analyse vor allem die Frage nach der Freiheit des Individuums und dem terroristischen Staat in der Massengesellschaft stellte, wurde die Totalitarismustheorie während des Kalten Krieges umgedeutet und im Kampf zwischen Osten und Westen ideologisch instrumentalisiert. Um die Kriegsmaßnahmen gegen den Ostblock weiterhin zu legitimieren, wurde der Begriff „totalitär“ auf die Sowjetunion gemünzt, und auch auf die politisch an ihr orientierten Staaten angewendet. Dazu zählte auch die DDR. Hatte Hannah Arendt noch für einen sparsamen Umgang mit dem Begriff der „Totalität“ plädiert und gegen dessen Verwendung für die realsozialistischen Staaten des Ostblocks nach dem Entstalinisierungsprozess7, erfuhr er nach dem Zerfall der Sowjetunion noch einmal Hochkonjunktur, auch in Bezug auf die DDR. So sprossen in den 90er Jahren in den neuen Bundesländern der BRD reihenweise Museen aus dem Boden, die als demokratiefördernde Maßnahme versuchten „beide Traumata“ der Deutschen Geschichte gleichermaßen zu behandeln, endlich mit „dem Terror des 20. Jahrhunderts“ abzuschließen und ein einendes nationales Geschichtsnarrativ zu schaffen. Das, was vom Totalitarismusbegriff in diesen Einrichtungen schließlich geblieben ist, ist weniger an Arendts durchaus starken Interpretation, als vielmehr am propagandistischen Zweck des Kampfes gegen die realsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas orientiert. Hierbei geht es aber, wie bereits erwähnt, nicht um den Kern, den ideologischen Unterbau der Systeme, sondern nur um den Vergleich des Herrschaftsintrumentariums – also einzelner Mittel zur Durchsetzung von Macht. Verglichen werden beispielsweise Massenmedien und Propaganda, Jungendorganisation, Führerkult oder überwachung. Das alles mag es sowohl im nationalsozialistischen Deutschen Reich als auch in der DDR gegeben haben. Was aber fehlt, ist, dass das eine System das Ziel der Schaffung eines einheitlichen „deutschen Volkskörpers“ verfolgte und infolgedessen einen „Rassenkrieg“ vom Zaun brach, während das Andere als „Antifaschistischer Staat“ die Gegenantwort darauf darstellten wollte. Während in der NS-Ideologie Rassismus, Sozialdarwinismus8 und Antisemitismus eine zentrale Rolle einnahmen, gewissermaßen das Grundgerüst des zwölf Jahre andauernden, in sich geschlossenen Terrorregimes bildeten, versuchte die DDR aus ihren Bürger*innen mithilfe staatlicher Erziehung parteitreue Sozialist*innen zu machen, die schließlich eine neue, kommunistische Gesellschaft formen sollten. Sicherlich war auch die DDR geprägt von unterschwelligem Rassismus und Antisemitismus. Der große Unterschied ist aber, dass diese Form von Diskriminierung nicht die Grundlage des Systems bildete, sondern sich unter anderem aus gesellschaftlichen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus ergaben, die die DDR-Staatsführung jedoch geflissentlich unter den Teppich zu kehren versuchte. So lohnt es sich, anstatt beide Staaten plump nebeneinander zu stellen, genau diese Fortführung früherer Phänomene zu untersuchen und dabei miteinzubeziehen, dass es sich bei dem SED-Staat9 nicht um ein aus sich selbst heraus entstehendes Terrorregime handelte. Die DDR bestand 40 Jahre, veränderte sich dabei (träge) und war zu einem guten Teil auch ein Produkt aus der Ost-West Konfrontation des Kalten Krieges.

Das alles sollte ausreichen, um deutlich zu machen, warum ein Vergleich auf diese Weise oberflächlich bleibt und eine Gleichsetzung nicht funktionieren kann. Was das Ganze aber am ausdrücklichsten problematisch gestaltet, ist die Relativierung der NS Gewaltherrschaft, die dabei mitschwingt. Die Einmaligkeit des Holocaust wird durch einen Vergleich – jeglicher Art, aber insbesondere mit dem Arbeitslagersystem der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR – in Frage gestellt. Die Shoah, als industrialisierte, durchbürokratisierte Massenvernichtung jüdischen Lebens in Europa, der Porajmos, als hunderttausendfacher Tod von Romn*ja und Sinti*zze, die Euthanasie, der tausende alte, schwache, kranke, behinderte und zu solchen gemachte Menschen zum Opfer fielen, die massenhafte Ermordung sogenannter „Gemeinschaftsfremder“ und „Asozialer“10, Homosexueller, Angehöriger religiöser Minderheiten, politisch Widerständiger und Oppositioneller – das alles ist mit keinem anderen Ereignis der Geschichte in seinem Maß an Grausamkeit vergleichbar. Wer die DDR mit dem NS-Regime gleichsetzt oder aber die ideologischen Grundfesten des Nationalsozialismus ausblendet – wie es der totalitarismustheoretische Ansatz zuweilen tut – der droht, die Gewaltverbrechen, die zwischen 1933 und 1945 stattfanden, zu relativieren, zu verharmlosen, zu bagatellisieren. Ganz real kommt das einer Verhöhnung der Opfer gleich. Hinterfragenswert ist ganz allgemein, inwiefern hiermit überhaupt etwas anderes als die Befeuerung von Opferkonkurrenzen geschaffen werden kann. Auch wenn sich gerade neue Ansätze eines System- und Ideologievergleichs entwickeln, die für sich selbst beanspruchen über eine totalitarismustheoretische Betrachtung hinauszugehen 11, müssen sich insbesondere Vergleiche zwischen DDR und NS-Staat dem Verdacht stellen, sie würden sich dessen bedienen. Was hiermit deutlich gemacht werden soll, ist, dass sich aber genau das immer haarscharf am Rand der Gleichsetzung bewegt und diesen manchmal auch klar überschreitet. Es bleibt also noch einmal das Plädoyer für eine Nachzeichnung von Kontinuitäten stark zu machen, die statt eines oberflächlichen Vergleichs beispielsweise auf Fragen von gescheiterter Entnazifizierung, bis heute andauernder, zum großen Teil versäumter „Widergutmachungsprozesse“, auf angemessenes Gedenken oder rechte Organisierung in den Nachfolgestaaten des NS-Regimes hinweisen kann.

1 In der Schule wird die DDR häufig als Beispiel für die praktische Umsetzung der kommunistischen Idee auf Staatsebene verwendet, und als Begründung dafür, warum so ein System, welches auf der Idee des Kommunismus basiert nicht funktionieren kann, herangezogen. Dass es dabei aber ganz verschiedene Definitionen von Kommunismus gibt wird dabei ausgeblendet. Unserer Idee von Kommunismus entspricht das autoritäre Regime der DDR keineswegs, weswegen in diesem Text der Begriff des „Staatssozialismus“ oder „Realsozialismus“ zur Beschreibung des Gesellschaftssystems der DDR verwendet werden soll.

2 Die Bronzestatue „Der Jahrhundertschritt“ von Wolfgang Mattheuer steht unter anderem vor dem Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig.

3 Die Zahl der Opfer der Mauer, die die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland markierte, liegt nach neuestem Stand bei 140 bis 327. Diese Zahl ist höchst strittig und variiert, je nachdem, wer in diese Opferzahl mit eingerechnet wird, inwiefern auch ungeprüfte Fälle mit aufgenommen werden und welche Quellen dazu herangezogen werden. Vgl. hierzu bspw.: Chronik der Mauer. Eine multimediale Dokumentation der Geschichte der Berliner Mauer 1961 bis 1989/90. Langzeit-Kooperationsprojekt des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) mit der Bundeszentrale für politische Bildung und Deutschlandradio, 2019, [URL: http://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/], (Zugriff zuletzt: 15.05.2020).

Website der FU Berlin, Pressemitteilung – Studie: Dem DDR-Grenzregime fielen an der innerdeutschen Grenze insgesamt 327 Männer, Frauen und Kinder aus Ost und West zum Opfer, 2017, [URL: https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2017/fup_17_155-studie-opfer-des-ddr-grenzregimes/index.html], (Zugriff zuletzt: 15.05.2020).

4 Beispielsweise war die DDR an der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 in der tschechischen Hauptstadt Prag beteiligt. Mehr dazu beispielsweise hier: Holger Kulick, Prag 1968: Der Einmarsch des Warschauer Pakts im überblick, 2018, [URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/prag-1968/274360/ueberblick-karte-der-einmarsch-1968] (Zugriff zuletzt: 23.05.2020).

5 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/ Zürich, 2008.

6 Josef Stalin war zwischen 1922 bis zu seinem Tod 1956 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und ab 1946 Vorsitzender des Ministerrats der Sowjetunion. Während seiner diktatorischen Herrschaftszeit kam es im sowjetischen Vielvölkerstaat zu „politischen Säuberungen“, die etwa 19 Mio. Todesopfer forderten, darunter machtpolitische Gegner, politisch Andersdenkende, aber auch ethnische und religiöse Minderheiten.

7 „Entstalinisierung“ bezeichnet den Prozess, der nach dem Tod Josef Stalins 1953 in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten einsetzte. Im Rahmen dessen kam es – teilweise! – zur Rehabilitierung von Opfern des stalinistischen Terrors, zum Rückbau des unter Stalin entwickelten GuLAG (Arbeits- und Straflager)-systems und dem Rückgang des stalinistischen Personenkults. In der DDR setzte sich dieser Prozess nur partiell durch. Zwar verschwand der Name Stalins aus dem öffentlichen Raum, aus Schulbüchern, Straßen- und Vereinsnamen, aber das stalinistisch geprägte, brutale und restriktive Vorgehen gegen politische Gegner wurde nicht in Gänze reformiert.

8 Sozialdarwinismus bezeichnet die übertragung der von Charles Darwin entwickelten, naturgesetzlichen Prinzipien wie Auslese, Kampf ums Dasein, Anpassung an die Umwelt, Vererbbarkeit erlernter Fähigkeiten auf den sozialen Bereich. Die vom Sozialdarwinismus behauptete „natürliche“ Ungleichheit der Menschen wurde von der Rassenideologie des Nationalsozialismus übernommen, um die überlegenheit der „arischen Rasse“ zu untermauern sowie die Ausmerzung „rassenfremder“ Bevölkerungsteile und den Kampf um „Lebensraum im Osten“ zu rechtfertigen.

9 Die SED war die alleinregierende Partei der DDR – „Sozialistische Einheitspartei der DDR“ – und sollte die Vereinigung zwischen SPD und KPD darstellen.

10 Bei den Begriffen „Gemeinschaftsfremde“ oder auch „Asoziale“ handelt es sich um von den Nationalsozialisten geprägte Quellenausdrücke, die eine äußerst diverse Opfergruppe umfassen. Aus diesem Grund wird hier darauf zurückgegriffen, die Wörter aber durch Anführungsstriche markiert. Für weiteres dazu vgl. bspw. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995.

11 Die Totalitarismustheorie und die Debatte darum werden in der Geschichtswissenschaft bereits (teilweise) als überholt bezeichnet. So gibt es Ansätze, die versuchen jenseits bzw. über alle totalitarismustheoretischen Ansätze hinaus zu vergleichen. Allerdings stehen bei diesen Vergleichen die stalinistische ära der Sowjetunion und das NS-Regime im Vordergrund. Während diese Inbezugsetzung schon eher funktionieren kann, beispielsweise hinsichtlich der Frage nach dem Kern moderner „Barbarei“, bleibt der Vergleich zwischen DDR und NS unhaltbar. Davon wird, vor allem auf internationaler Ebene, aber auch abgesehen. Ein Beispiel: Michael Geyer/ Sheila Fitzpatrick, Beyond Totalitarianism: Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2008.