Abriss der herrschenden Absurdität

von einem Mitglied der Gruppe Spektrum 360

Von Spektrum360

Mit Beginn des neuen Jahrzehntes und der Covid-19 Pandemie verschärften sich die Klassenaspekte global so deutlich wie zuletzt zur Bankenkrise von 2008. Weltweit fielen Menschen in Arbeitslosigkeit und dadurch in Existenznöte. Immer lauter wurden die Rufe nach staatlichem Handeln, nach Subventionen und Hilfen. Von der CDU über die Sozen bis zu Linkspartei – ein*e jede*r entdeckte seinen verschollen geglaubten Keynesianismus wieder und faselte von Konjunkturprogrammen und Hilfspaketen.

Die systematische Krisenhaftigkeit des Ganzen wurde von allen Zugängen wieder einmal ignoriert. Und während die einen in autoritären Maßnahmen aufgingen, halluzinierten die anderen sich antisemitische Weltbilder zusammen. Erst der Mord an George Floyd wirkte wie ein Schnitt durch den Corona-Schleier. Gleichzeitig offenbarten die anschließenden Debatten sowie Riots vielen Menschen, welche Gewalt überhaupt vom Staat ausgeht.

Angesichts dessen bieten nicht nur die Feierlichkeiten zum 30-jährigen Bestehen der Deutschen Einheit einen Anlass grundsätzlich Gedanken über Staat, Nation und Kapital zu formulieren.

Falsche Hoffnungen

Ob Extinction Rebellion, Greenpeace oder Attac – was diese Gruppen eint ist die Hoffnung auf eine bessere Politik. In guter Absicht werden dann Forderungen gestellt, die aber hauptsächlich eines implizieren: der Staat wird es schon richten. Ohne wirkliche Reflexion wird somit ein umsichtiges Handeln von dem Akteur erwartet, welcher die ungerechten Zustände ermöglicht und bis dato stillschweigend trug. Wenn der Staat also mächtig genug ist uns diese und jene Privilegien zu gewähren, so ist er auch mächtig genug sie uns wieder zu nehmen. Derartige Forderungen stellen demzufolge immer nur einen Burgfrieden dar, welcher nie dem grundsätzlichen Problem an die Schläfe will: dem Kapitalismus.

Diesem heimlichen Staatsfetisch wohnt jedoch noch eine ganz andere Tücke bei: sie vernebelt die Erfolge und Erfahrungen von Bewegungen. Prozesse der Emanzipation wie Riots oder Streike werden delegitimiert und ihre Errungenschaften institutionalisiert. Politiker*innen setzen sich an Speerspitze und predigen das, wozu man sie zwang. Dies führt zur Reproduktion des gesellschaftlichen Scheins und politischer Ohnmachtserfahrungen im selben Maße.

Staat & Subjekt

Geht es um eine grundlegendere Kritik am Staat so ist es eine triste Erkenntnis, dass die Menschen stets als bürgerliche Subjekte – also Staatsbürger*innen – existieren. Für Menschen besteht keine Wahl, ob sie eine Staatsangehörigkeit besitzen wollen oder eben nicht. Bereits mit der Geburt empfangen wir somit eine Reihe an Rechten, aber eben auch an Pflichten.

In vielen linken Zusammenhängen wird der Staat von der ökonomischen Konstellation abgeleitet. Diese Ableitung verkennt jedoch den Charakter des Staates. Denn sie konzipiert ihn als etwas Wesenloses. Dies bedeutet in der Umkehr, dass der Staat nur mit den richtigen Inhalten zu füllen sei. Häufig werden in dieser Erklärung der Staat und die positive Bezugnahme auf ihn, den Nationalismus, als eine Ideologie der Eliten, also als bewusstes Herrschaftsinstrument, verstanden. So lassen sich die oben genannten Phänomene auch einordnen.

Aber selbst antiimperialistische Ableitungen, welche stets einen revolutionären antistaatlichen Pathos inszenieren, sind haltlos. Ihr blindes Vertrauen in die Massen ist lediglich Ausdruck dieser oben genannten Wesenslosigkeit des Staates und damit kein Antagonismus. Sie verkennen also auch den Begriff von Staat und Nation.

Bei der Wesensfindung geht es aber nicht darum Nationalismus als aufgezwunge Verschleierungsideologie zu reduzieren. Oder wie die Bürgerlichen es tun: ihn als eine Ideologie einer kleinen Gruppe von Nazis zu begrenzen. Vielmehr muss eine Staatskritik den Nationalismus als objektiven Wahn der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen wissen. Dies liegt an der Tatsache, dass die Subjekte in der bürgerlichen Gesellschaft im selben Maße politische Subjekte sind wie wirtschaftliche. Mit anderen Worten: Bourgeoise und Citoyen.

Ein Staat ist kein Staat

Ausgehend von einer ganz allgemeinen Staatskritik, welche selbst in linksradikalen Kreisen vernachlässigt wird, ist es wichtig nicht auf dieser zu verharren. Ganz praktisch äußert sich das daran, dass die Lebensrealitäten und Privilegien sich weltweit von Staat zu Staat differenzieren. Dasselbe gilt besonders für die Entstehung, Legitimation und Geschichte der einzelnen Staaten und Nationen selbst. Eine Verallgemeinerung ‚ein Staat sei ein Staat sei ein Staat‘ ist somit hinfällig und historisch ungenau. In diesem Zusammenhang ist auch das lästige ‚Israel ist auch nur ein Staat wie jeder andere. ‘ zu widerlegen.

Die nackte Frage nach der Umsetzung von Staat und Nation verweist dabei ganz automatisch auf das, was als deutsch verstanden werden kann. Es ist die historisch deutsche Antwort auf die Sozialfrage, welche das Mordkollektiv schuf und die Shoa ermöglichte. Deutsch meint also nicht einen territorialen oder ethnischen Charakter wie häufig unterstellt wird. Vielmehr begreift es eine polit-ökonomische Konstellation, welche sich als antibürgerliche Revolte artikuliert und sich in der negative Vergesellschaftung äußert. Das Verhältnis von Nation zur Arbeit sowie die Integration von letzterem in den Staat weist historisch das Potential des Staatfetischs auf. Die Wahnhaftigkeit, die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses zu biologisieren und liquidieren zu können, äußert sich konkret im Antisemitismus. Diesen gilt es gerade heute als Basisideologie des Kapitalismus zu erkennen wie zu kritisieren.

30 Jahre Scheußlichkeit

Zurück im 21. Jahrhundert lässt der Blick auf die Feierlichkeiten anlässlich der Widervereinigung nur Böses erahnen. Anders als häufig unterstellt, trauert eine solche Kritik keiner DDR nach. Unter den oben genannten Überlegungen zur Nation als Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft ist es nur logisch das sowas wie Staatssozialismus reiner Murks ist und die SED nix mit Kommunismus am Hut hatte.

Nichtsdestotrotz lässt sich die Wiedervereinigung der deutschen Nation selbst heute noch als problematisch erachten. So verschwand mit ihr die letzte offensichtliche Konsequenz aus 2 angezettelten Weltkriegen deutscher Wahnvorstellungen. Dieser Schwund ebnete eine Ära des neuen Nationalbewusstseins der Deutschen. Demütig und reuevoll ergab sich der Nationalcharakter. Die Deutschen wurden dank Guido Knopp und zig Denkmälern zum Erinnerungsweltmeister. Der Publizist Wolfgang Pohrt schrieb bereits vor vielen Jahren. „Zwei angezettelte Weltkriege böten, so meint man weiter, die besten Startbedingungen, wenn es um den ersten Platz unter den Weltfriedensrichtern und Weltfriedensstiftern geht – frei nach der jesuitischen Devise, dass nur ein großer Sünder das Zeug zum großen Moralisten habe. Je schrecklicher die Sünde, desto tiefer die Buße und Reue, je tiefer die Buße und Reue, desto strahlender am Ende die moralische Überlegenheit.“ Somit entstand des Phänomen, dass „gerade wir als Deutsche“ wissen was Faschismus sei und was nicht.

Dass die Erben des „Dritten Reiches“ sich jedoch weder einen Begriff vom Faschismus noch von der bürgerlichen Gesellschaft machen ist nicht verwunderlich. Die praktische Realität dessen ließ sich an den gesellschaftlichen Debatten nach BLM-Protesten erblicken. So wagten es tatsächlich Menschen auch die deutschen Polizeiorgane auf Rassismus unter die Lupe zu nehmen. Doch anstatt rassistische Morde in Polizeigewahrsam oder den autoritären Missbrauch zu kritisieren, versicherten alle politischen Akteure in deutscher Korpsgeistmanier den demokratischen Charakter der Staatsorgane.

Andererseits, und dies ist in Bezug auf die Wiedervereinigung auch nach 30 Jahren eben noch brandaktuell, öffnete man mit der raschen Eingliederung der ehemaligen DDR die ökonomische Büchse der Pandora. Dominik Intelmann beschrieb in seinem lohnenswerten Vortrag die Ostdeutschen als Volk ohne lokale Bourgeoise. Die Folge der schnellen Einführung der D-Mark sowie der Privatisierungspolitik der Treuhand führte kurzer Hand zum nahezu kompletten Zusammenbruch der ostdeutschen Produktion. So entstand eine ökonomische Konstellation, in welcher die neuen Bundesländer in ständiger Abhängigkeit von Ausgleichzahlungen existieren. Was dieses Verhältnis von Altschuldenreglung, Soli und Länderfinanzausgleich auf psychologischer Ebene bedeutet lässt sich seit 2015 eindrucksvoll beobachten.

Sachsen ein deutscher Musterschüler

Am sächsischen Beispiel ist wohl klar, was es bedeutet im 21. Jahrhundert besonders deutsch zu sein. Staats- und Arbeitsfetisch der Sachsen äußern sich in einem offensiven und aggressiv ausgetragenen Ressentiment. Die sogenannte Erosion der Zivilgesellschaft ist jedoch nicht mehr als die nackte Gestalt des Zwei-Frontenkrieges der Subjekte. Diese leben dabei stets in doppelter Abwehr: auf der einen Seite fundamental antisemitisch und in halluzinierender Notwehr gegen die „Übermenschen“, anderseits strukturell rassistisch gegen die „Unmenschen“.

Das linksliberale Bashing über den Jammerossi ist in diesem Zusammenhang dann meist nur inhaltslose Ideologie. Es ist befremdlich, wenn diese Kritiker*innen vom Dunkeldeutschland reden und ein jedes Mal erneut über Pogrome oder Wahlerfolge entsetzt sind. Dies zeigt nicht nur eine Abwesenheit von einer umfassenden Kritik der gesellschaftlichen Zusammensetzung und deren Potentiale, sondern gleichzeitig die Identität eines besseren Teils dieses Landes. Dass die Wiedergutgewordenen und ihre Vorfahren die Demokratie aufgezwungen bekommen haben wird still und heimlich verschwiegen. Und dass Antifaschismus in Verbindung eines moderaten Gedenkens mittlerweile eine einverleibte Staatsräson ist und somit eine staatstragende Rolle anstatt staatszersetzende einnehmen ist diesen Kritiker*innen auch egal.

Schlussendlich ist den meisten Leser*innen wohl die Unsinnigkeit des 03. Oktobers und seiner Feierlichkeiten genauso bewusst wie die von Staatlichkeit im Allgemeinen. Deswegen ist es vor allem wichtig die Kritik grundsätzlich zu schärfen und aus historischen Ereignissen sowie Fehlern zu lernen. Eine ideologiekritische Herangehensweise in vollendeter Negativität ist deshalb Ursprung jeder Kritik für ein besseres Morgen.

Anmerkung:

Dieser Text wurde von einem Mitglied der Gruppe Spektrum 360 verfasst. Die Gruppe sieht sich als regionales Sammelbecken in der erzgebirgischen Provinz & hat demzufolge verschiedene Perspektiven und Diskurse.

Zum Weiterlesen oder Nachhören:

[1] Dr. Stephan Grigat: „Zur Kritik der Nation“; abgerufen auf https://www.youtube.com/watch?v=-x8W3Yfr2rQ

[2] Dr. Stephan Grigat: „Was heißt: antideutsch“; abgerufen auf: https://cafecritique.priv.at/antideutsch.html

[3] Dominik Intelmann „Mit Marx in den Neuen Bundesländern: Viel Staat, keine Bourgeoisie“; abgerufen auf: http://kantine-festival.org/audiobar/

[4] Joachim Bruhn: „Was deutsch ist“