„Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.“ – May Ayim

Leipzig_Augustusplatz_3.10.1990_CDU Wahlveranstaltung mit
Kurt Biedenkopf

Welche Erinnerung haben wir an das Ende der DDR? Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir an den sogenannten „Fall“ der Mauer denken? Wer sind die „Helden“ der sogenannten Friedlichen Revolution, denen wir heute für ihr demokratisches Engagement danken? Und welches Gefühl verbinden wir – auch diejenigen, die die Jahre ´89/90 selbst gar nicht miterlebt haben – mit alldem?

Wir denken an die Aufnahmen aus der Tagesschau, an die montäglichen Großdemonstrationen, an Menschenketten und Friedensgebete, an Wessis und Ossis die sich die Hände reichen, um sich gegenseitig  über die Mauer zu hieven und schließlich an von Freudentränen verschmierte schwarzrotgelb geschminkte Gesichter am Brandenburger Tor, die im nationalen Einheitstaumel ihre gemeinsame Fahne schwenken. „Einheit“ – „Freiheit“ – „WIR“ – sind die dazugehörigen Schlagwörter.

Woran wir nicht so gerne denken ist, dass ebendieses neue „Wirgefühl“ auch neue Ausschlüsse brauchte, um sich seiner Identität sicher zu sein und einen erstarkenden Nationalismus produzierte. Brennende Geflüchtetenunterkünfte, Anschläge auf sogenannte Ausländerheime, „national befreite Zonen“, gezielte Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, Drohungen, Hetze und die Morde an Linken – um nur einige wenige Beispiele zu nennen von alldem, was aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt wurde.

Anfang 2020 rückten solche Erfahrungen unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre kurze Zeit in das Aufmerksamkeitsfeld der Öffentlichkeit – zu den dreißigsten Einheitsfeierlichkeiten in Potsdam werden sie voraussichtlich aber keine Rolle spielen: Die hegemoniale Wendeerzählung in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte; sie ist weiß, deutsch, christlich.

Im Folgenden möchten wir Personen vorstellen, die keinen Platz in ebendieser Erfolgserzählung haben; die Ausgrenzung, Hass und Gewalt, welche mit dem neuen Einheitsgefühl der Deutschen einhergingen, selbst erfahren haben. Die biografischen Ausschnitte sind Teil des Begleitheftes der Ausstellung Anderen wurde es schwindelig – 1989: Schwarz, Jüdisch, Migrantisch der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt a.M. in Zusammenarbeit mit spot_the_silence, Hito Steryl und Malte Wandel. Das Ausstellungsprojekt setzt sich im Rahmen unterschiedlicher Zugänge mit Wendeerzählungen abseits des hegemonialen Narrativs auseinander und zieht ganz bewusst eine Linie zur Gegenwart.

 

Uwe Dziuballa
* 1965, Karl-Marx-Stadt, DDR

Uwe Dziuballa verbringt seine Kindheit in Jugoslawien. Als Jugendlicher kehrt er zurück nach Karl-Marx-Stadt, ins heutige Chemnitz. Der Widerspruch zwischen dem antifaschistischen Selbstverständnis der DDR und einem alltäglich spürbaren Antisemitismus wird ihm früh bewusst. Auch er selbst ist mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert. Die Nachwendezeit in Chemnitz beschreibt er als eine Art rechtsfreien Raum, in dem sich rechtsradikale Strukturen ungehindert ausbreiten konnten. Als er nach einem Aufenthalt in den USA Mitte der 90er wieder nach Chemnitz zurückkehrt, ist er erstaunt, wie sehr die Unterschiede zwischen Ost und West noch zu spüren sind. Er gründet den deutschisraelisch- jüdischen Verein „Schalom“, der sich für jüdische Kultur und ein friedliches Miteinander in Chemnitz engagiert. Wenig später eröffnet er mit seiner Familie das jüdische koschere Restaurant „Schalom“, das immer wieder zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wird.

Die Stimmung in Chemnitz empfindet Uwe Dziuballa gegenwärtig als noch gereizter als in den 90ern. Er beobachtet, dass die Hemmschwelle, sich öffentlich menschenfeindlich zu äußern, in den letzten Jahren gesunken ist.

Mai-Phuong Kollath
* 1963, Hanoi, Vietnam

Mai-Phuong Kollath kommt mit achtzehn Jahren als Vertragsarbeiterin nach Rostock. Sie erlebt die prekären und reglementierten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter* innen. Ein Teil ihres Lohnes wird für die Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam einbehalten, der Rest darf weder gespart noch an Angehörige geschickt werden, sondern muss in vorbestimmte Waren investiert werden. Im Zuge der Wiedervereinigung verliert ein Großteil der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen ihre Arbeitsplätze. Sozialhilfe ist für sie nicht vorgesehen. Um in Deutschland bleiben zu können, sind sie häufig gezwungen, sich selbstständig zu machen. Angesichts zunehmender rassistischer Anfeindungen und Übergriffe herrscht ein Gefühl der Schutzlosigkeit vor. Im Jahr 1992 brennt das Wohnheim, in dem Kollath lange lebte. Über mehrere Tage wird unter Beifall von Rostocker Bürger*innen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen belagert. Neonazis aus ganz Deutschland reisen an. Die Gewalt eskaliert, auch, weil die Polizei nicht eingreift. Am dritten Tag wird das Wohnheim „Sonnenblumenhaus“ in Brand gesteckt, ein Großteil der Bewohner*innen war zuvor evakuiert worden. Noch in ihrem Versteck beschließen die Bewohner*innen die Gründung des Vereins „Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach“, um sich gegen Rassismus in Rostock stark zu machen. Noch heute streitet der Verein für ein öffentliches Gedenken an das Pogrom von 1992, in dem die Stimmen der Betroffenen im Mittelpunkt stehen.

Sanem Kleff
* 1955, Ankara, Türkei

Sanem Kleff erinnert daran, dass es im Westdeutschland der 80er erste Erfolge migrantischer Politik gab. Nach unseligen Diskussionen über „Gastarbeiter“ wurde erstmals über Deutschland als Einwanderungsland gesprochen. Daran knüpfte sich die Hoffnung auf ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht, Anerkennung von Berufsausbildungen und Antidiskriminierungsgesetze. Mit der Öffnung der Berliner Mauer schwindet diese Hoffnung. Die anfängliche Freude über den Mauerfall in migrantischen Communities weicht der Ernüchterung. Im vorherrschenden Klima finden die Forderungen nach Gleichberechtigung keine Aufmerksamkeit mehr. Die zunehmende rassistische Gewalt im Zuge der Wiedervereinigung erlebt Kleff auch in ihrem Beruf als Lehrerin. Klassenfahrten in den Osten Deutschlands sind für Schwarze, migrantische Schüler*innen und Jugendliche of Color eine reale Gefahr. Um Schüler*innen vor Angriffen organisierter rechter Jugendlicher zu schützen, fehlt jegliche Infrastruktur. Heute ist Sanem Kleff Vorsitzende des Vereins „Aktion Courage“ – gegründet 1992 als Reaktion auf den gewalttätigen Rassismus und Einheitsnationalismus mit den Pogromen und Brandanschlägen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Eines der bekanntesten Projekte des Vereins ist das Programm „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.

Patrice G. Poutrus
* 1961, Ost-Berlin, DDR

Der Historiker Patrice G. Poutrus spricht über die Veränderungen, die Mauerfall und Wiedervereinigung für die politische Kultur in der Bundesrepublik bedeuteten. Innerhalb weniger Wochen entsteht nach dem Mauerfall eine deutsch-deutsche Dynamik, die sich schnell zu einem Einheitsnationalismus entwickelt. Während Helmut Kohl im November noch zurückhaltend auf die Ereignisse in der DDR reagierte, verkündet er in seiner Dresdener Rede im Dezember 1989 unter „Deutschland einig Vaterland“-Rufen offensiv das Ziel der Wiedervereinigung. Mit der Wiedervereinigung verändern sich die politischen Kräfteverhältnisse. Forderungen nach einer stärkeren Abschottung gewinnen überall Mehrheiten. Im Jahr 1993 wird das Asylrecht verschärft.

Den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Gewalt nach der Wiedervereinigung sieht Poutrus als Fortsetzung der Tabuisierung rassistischer Gewalt in der DDR. Am Beispiel des Pogroms in Hoyerswerda 1991 führt er aus, dass Rassismus nicht benannt, Täter*innenperspektiven ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gestellt werden. Rassistische Gewalt in West und Ostdeutschland wird normalisiert, rechtsradikale politische Positionen werden zu legitimen Äußerungen im politischen Spektrum.

Einen kritischen Blick wirft Poutrus auf gegenwärtige Debatten um eine gemeinsam geteilte ostdeutsche Erfahrung nach der Wiedervereinigung, aus der die Gewalterfahrungen von Vertragsarbeiter*innen ausgeschlossen bleiben.

Olga Macuacua
* 1964, Chibuto, Mosambik

Olga Macuacua kam 1986 als Vertragsarbeiterin in die DDR. Zunächst wurde ihr ein Arbeitsplatz im Dresdener Fleischkombinat zugewiesen, den sie jedoch ablehnte, um in Freital in einem Glaswerk zu arbeiten. Durch den Mauerfall verlor sie diese Anstellung und ihren Platz im Wohnheim. Zunächst ging sie davon aus, nach Mosambik zurückkehren zu müssen. Ihr damaliger Partner und späterer Vater ihrer Kinder, ein angolanischer Vertragsarbeiter, erfuhr, dass es grundsätzlich möglich war, in Deutschland zu bleiben. Olga Macuacua und ihren Kolleg*innen hatte man dies nicht mitgeteilt. Ohne eine neue Arbeitsstelle waren ihre Papiere jedoch ungültig. Trotz behördlicher Widerstände und dem Erstarken rechter Gewalt entschied sich das Paar, in Dresden zu bleiben. Sie bezogen zunächst ein leerstehendes, baufälliges Haus. Mit Hilfe eines befreundeten Pfarrers fanden sie 1991 Ausbildungsplätze in der Krankenpflege. Ein einschneidendes Erlebnis ist die Ermordung eines Bekannten im selben Jahr – der ehemalige Vertragsarbeiter Jorge Gomondai wurde das erste Todesopfer rechter Gewalt in Dresden nach der Wiedervereinigung. Vierzehn Neonazis griffen Gomondai an und stießen ihn aus einer Straßenbahn. Der Tatort wurde 2007 zum Gedenken in Jorge-Gomondai-Platz umbenannt.

Das Begleitheft steht online zur Verfügung: https://www.bs-anne-frank.de/ausstellungen/anderen-wurde-es-schwindelig/

Die vollständige Ausstellung gibt es mittlerweile auch online: www.schwindelig.org

An dieser Stelle einen recht herzlichen Dank an die BS Anne Frank, die uns freundlicherweise genehmigt hat, ihr Material hier abzudrucken.