RE:KAPITULATION: 30 JAHRE DEUTSCH-DEUTSCHE EINHEIT

vom Bündnis re:kapitulation aus Potsdam

Bild von teilweise heruntergekommenen Plattenbauten
Aufgenommen vom kollektiv_textegegendie nation

Der Nationalfeiertag steht vor der Tür – Deutschland feiert 30 Jahre Einheit. Trotz Corona-Pandemie und Power-Krisenmanagement versuchen Bund und Land Brandenburg irgendwie „würdig und angemessen“ den nationalen Mythos einer friedlichen Revolution zu begehen, die ein armes geteiltes Land im braven Beischlaf wieder vereinen ließ.

Das große Bürgerfest mit Deutschland-Fanmeile ist pandemiebedingt abgesagt. Das Land plant dezentrale, teils digitale Alternativen.
Gut für uns als radikale Linke – denn jetzt können diese Tage um so mehr „uns“ gehören! Wir haben einiges in Planung und werden in den kommenden Monaten flexibel planen, wie die jeweilige Umsetzung aussehen wird. Es lohnt in jeden Fall, sich die Tage freizuhalten.

Als Potsdamer Bündnis „Re:kapitulation. Kein Ende der Geschichte“ stellen wir uns dem schwarz-rot-goldenen Taumel entgegen – auf der Straße, im Alltag und digital. Für uns ist klar, es gibt hier nichts zu feiern!

Kein Ende der Geschichte

Es gibt Leute, die behaupten, wir hätten das Ende unserer Geschichte schon längst erreicht. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, rief im Jahr 1989 das Bonmot vom „Ende der Geschichte“ aus, das gewissermaßen zu einem bundesrepublikanischen Dogma der staatlichen Geschichtsaufarbeitung avancierte: Das Zeitalter der Extreme sei vorbei und wir seien nun endlich angekommen. Der Untergang des Realsozialismus mit der Beseitigung des angeblich letzten vermeintlichen Widerspruches zur Dominanz des kapitalistischen Staatenblocks mit seiner „freien“ Marktwirtschaft. Während das Publikum Tag ein Tag aus mit Nachrichten vom drohenden Klimakollaps, Revolutionen und Konterrevolutionen, verheerenden Bürgerkriegen, ökonomischen Verwüstungen, Pandemien und individuellem Elend behelligt wird und den Kopf schütteln mag über den Wahnsinn, der sich vor seinen Augen abspielt, möchte man es darüber belehren, dass nichts grundlegendes mehr passieren wird.

Es müssen an dieser Stelle nicht viele Worte über die tiefgreifenden und zum Teil verheerenden Konsequenzen verloren werden, welche die sogenannte Wende für die millionenfachen Lebensverhältnisse der ehemaligen DDR-Bürger*innen hatte. Es reicht festzuhalten, dass die Herrschaft des „sozialistischen“ Eigentums und seiner autoritären Führung durch die Herrschaft des Privateigentums und seiner bürgerlichen Führung abgelöst wurde. Auf Pest folgt Cholera. Und während die neue Führung den Fall der Mauer – das Repressions- und Schutzinstrument des sozialistischen Eigentums – frenetisch feiert, schickt sie ihre Sicherheitsdienste und Grenzschutzbeamte auf Patrouille, macht es sich hinter den Mauern und Zäunen ihrer Privatanwesen heimelig, riegelt ganze Kontinente ab, und wird nicht müde zu beschwören, dass die Freiheit des Privateigentums die Bedingung der Freiheit überhaupt sei. Der große kalte Krieg der Blöcke wurde abgelöst durch den immerwährenden Krieg der Privateigentümer und deren Interessensvertreter*innen. Dieser Krieg reicht vom klassischen Nachbarschaftsstreit, über den „Kampf um den Arbeitsplatz“ bis zum Kampf gegen „illegale Einwanderung“, oder besser, zu dem Krieg gegen Arme und Bedürftige im Allgemeinen. Für wen dieser elende Zustand dem Ende der menschlichen Geschichte gleichkommt, der verwechselt die Geschichte mit seinem Verstand und wenn das nicht, mit seinem Klasseninteresse.

Dass nicht die Geschichte am Ende ist, sondern vielmehr die Geschichtserzählung dieses Staates, zeigt sich schlagend daran, dass auch 30 Jahre nach dem Sturz der DDR-Führung dieser Fakt eine der zwei Säulen der offiziellen BRD-Ideologie bildet.
Säule eins: Wir sind keine Nazis (mehr)! – immerhin, wenn auch allerhöchstens halb wahr.
Säule zwei: Wir haben die DDR überlebt! – und das, obwohl wir sie noch 1983 und 1984 mit Milliardenkrediten gestützt haben. Chapeau!
Dieser kümmerliche Staatsmythos ist noch erbärmlicher, wenn man bedenkt, dass es keine auch nur im Ansatz wirkmächtige Opposition gibt, die eine sozialistische Gesellschaft fordert, geschweige denn die DDR zurückhaben möchte.

Viel mehr als den Triumph über den an den eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen Realsozialismus, kann dieser Staat nicht für sich verbuchen.
Insbesondere keine soziale und keine ökonomische Sicherheit. Diese beiden Fundamente eines guten Lebens wurden ordentlich zurechtgestutzt um einerseits das Privateigentum vom Ballast der „sozialen Verantwortung“ zu befreien und andererseits die vom Sozialismus befreite Arbeiter*innenklasse mit der Agenda 2010 auf ihre minderwertige Rolle als Humankapital und devote Bittsteller*innen einzupolen.
Damit aber nicht genug. Der Raub- und Rachefeldzug des (deutsch-deutschen) Kapitals gegen die „soziale Verantwortung“ war und ist begleitet von einer neuen „internationalen Verantwortung“. Seitdem man sich des offensichtlichen Brandmahls des Deutschen Vernichtungskrieges entledigen konnte und endlich als „einig Vaterland“ wieder zum Tagesgeschäft übergehen durfte, darf die deutsch-deutsche Beteiligung an grauenhaften Militärabenteuern ebenfalls kein Tabu mehr sein. Wobei man die deutsch-deutschen Truppen nunmehr wegen und nicht mehr für oder trotz Auschwitz mobilisiert. Das klingt auch gleich viel humaner. Und so darf der Meister der Aufarbeitung endlich wieder — und diesmal ganz gewiss europäische (!) – Kapitalinteressen militärisch stützen und durchsetzen. Konsequent insofern auch, als dass es sich bei diesen Unternehmungen abermals um alles, nur nicht um siegreiche Militäroperationen handelt: Kosovo, Afghanistan, Senegal, Mali, Südsudan, Syrien. Und wer aus diesen Elendsregionen abhauen will, den*die erwartet bereits die deutsch-deutsche Kriegsmarine im Mittelmeer und der detusch-deutsche Bundespolizist im Auffanglager.
Es bleibt in dieser lockeren Aufzählung der bundesrepublikanischen Errungenschaften der letzten 30 Jahre noch die europäische Integration zu erwähnen. Der naive Versuch, die deutsch-deutsche Dominanz durch wirtschafts- und währungspolitische Einbindung zu fesseln oder sogar zu brechen ist gründlich gescheitert. Während das deutsch-deutsche Kapital seine feindlichen EU-Geschwister in Grund und Boden konkurriert und sich periodisch als Weltmeister der Weltmarktschlacht rühmt und gerade deshalb den europäischen Zusammenhalt beschwört, ist es unter keinen Umständen bereit, seine ruinierten Bundesgenoss*innen an diesem wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu lassen. Und so zwingt man seinen europäischen Freund*innen verheerende Sparmaßnahmen auf, belehrt sie über ihre Dekadenz und fordert sie dazu auf, ihre Arbeiter*innen ebenso schäbig sozial zu reformieren, wie man es hierzulande längst gewohnt ist. Wir werden sehen, welche gesellschaftlichen Eruptionen diese Dynamik noch bereithalten wird.

Unter diesen Umständen ist es nur zu verständlich, dass die Bundesoffiziellen mitsamt ihren Hofchronist*innen Daten wie den „Tag der Deutschen Einheit“ so überschwänglich feiern und ihres tatsächlichen historischen Gehalts berauben.
Unter diesen Umständen wird ebenso die Ansicht verständlich, dass mit der deutsch-deutschen Einheit die deutsch-deutsche – und mit ihr die menschliche – Entwicklung, in ihr Endstadium gelangt sei. Denn in jeder Herrschaftsform wird immer dann das Ende des bis dahin notwendigen Kampfes um die Herrschaft verkündet, wenn die Bedingungen ihrer eigenen hergestellt sind; gerade weil alle wissen, dass in Wahrheit nichts zu Ende ist.

Von einer solchen Geschichte vom Ende muss sich jeder denkende Mensch mit Blick auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abgestoßen fühlen. Selbst Herr Fukuyama möchte in Anbetracht der Weltlage mittlerweile falsch verstanden worden sein. So habe er das alles gar nicht gemeint. Er habe lediglich Karl Marx kritisieren wollen, der behauptet habe, der Marxismus sei das Ende der Geschichte. Dabei ist Marx ausdrücklich der Ansicht, dass mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ und nicht deren Geschichte abgeschlossen sei. Für ihn machen wir tatsächlich noch überhaupt keine eigene Geschichte, sondern werden umgekehrt von ihr getrieben und gemacht. Für einen wie Marx hat die Zukunft sehr viel mehr zu bieten als den alltäglichen Kampf und das immergleiche Grauen, dass die Gesellschaft der Privateigentümer für die Mehrheit auf diesem Planeten bedeutet. Und auch wir hoffen und treten dafür ein, dass sie mehr bereit hält, als die hohlen und verlogenen Phrasen über Einigkeit und Recht und Freiheit, in der wir angeblich leben.

Denn wir wissen, dass es keine Einigkeit geben kann, solange die Mehrheit Arm und die Minderheit reich sein muss. Wir wissen, dass es keine Gerechtigkeit geben kann, solange das Recht diesen Gegensatz schützt. Und wir wissen, dass es solange keine Freiheit geben kann, solange Menschen massakriert und drangsaliert werden, weil ihre schicksalhafte Zugehörigkeit zu einem Staatsmoloch mehr zählt, als ihre Bedürftig- oder Hilflosigkeit. Und da wir wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen ungeheuren Wahnsinn für ihre Fortexistenz braucht, sagen wir nach 30 Jahren deutsch-deutscher Einheit:

Der Anfang der Geschichte bedeutet das Ende von Deutschland.

https://www.re-kapitulation.org/
https://twitter.com/Re_Kapitulation
https://www.facebook.com/ReKapitulation
https://www.instagram.com/re_kapitulation/