Was ist eigentlich das Problem mit Nationalismus?

Nationalismus wird unterschiedlich definiert, häufig aber als übersteigertes Nationalbewusstsein bezeichnet. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es zum Beispiel unter dem Stichwort „Nationalismus“: „Übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation. Im Gegensatz zum Nationalbewusstsein und zum Patriotismus (Vaterlandsliebe) glorifiziert der Nationalismus die eigene Nation und setzt andere Nationen herab. Zugleich wird ein Sendungsbewusstsein entwickelt, möglichst die ganze Welt nach den eigenen Vorstellungen zu formen.“[1] Ähnlich drückt sich das Bayrische Landesamt für Verfassungsschutz aus: „Nationalismus wird definiert als Ideologie, die die Merkmale der eigenen ethnischen Gemeinschaft (z.B. Sprache, Kultur, Geschichte) überhöht bzw. absolut setzt. Diese Ideologie gipfelt in dem übersteigerten Verlangen nach der Einheit von Volk und Raum.“[2] Nationalismus ist also zu viel. Er zeigt ein „übersteigertes Bewusstsein“, ein „übersteigertes Verlangen“ oder er „überhöht“. Schlecht ist also nicht das Nationalbewusstsein oder das Verlangen nach einem einheitlichen Nationalstaat, nein, schlecht ist in dieser Logik nur seine krankhafte Übersteigerung. Dies spiegelt sich auch in den häufigen Unterscheidungen von (gutem) Patriotismus und (schlechtem) Nationalismus. Dabei handelt es sich um eine ganz einfache Denkfigur: Wenn nur das „Extrem“, nur die „Übersteigerung“ kritisiert wird, dann muss die Grundlage nicht hinterfragt werden. Sowohl der Verfassungsschutz als auch die BpB fühlen sich schließlich einem Nationalstaat verpflichtet, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, bzw. dem Freistaat Bayern als einem Teil davon. Sie müssen also davon ausgehen, dass es eine nicht-übersteigerte, eine normale, eine gute Form von Zuneigung zur Nation gibt. Doch das Gift des Nationalismus, von dem sich mancher verzweifelt unter den Labels der „Vaterlandsliebe“, der „Heimatliebe“ oder des „Patriotismus“ abzugrenzen versucht, tropft bereits aus dem grundlegenden Konzept der Nation und lässt sich auch unter noch so vielen Versuchen nicht davon lösen. Nationalismus und Patriotismus (oder: „Vaterlandsliebe“) lassen sich also nicht einfach voneinander abspalten, im Gegenteil, es handelt sich um das gleiche Phänomen unter zwei verschiedenen Namen. Im Mittelpunkt des Wertesystems steht bei beiden die eigene Nation, die es gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen gilt.

Doch was ist eigentlich diese „Nation“? Das Wort Nation leitet sich vom Lateinischen „Natio“ ab, was „Geburt“ oder „Herkunft“ bedeutet. In dieser Wortherkunft zeigt sich bereits eine Eigenschaft, die später entscheidend für die Idee der Nation bzw. des Nationalvolkes wird, nämlich die Zugehörigkeit zu einer fest definierten Gruppe durch die Geburt, bzw. durch die Abstammung der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern… Die Nation ist also eine Abstammungsgemeinschaft, durch die Geburt wird das Individuum ihr zugehörig. Diese Abstammungsgemeinschaft wird rückwirkend konstruiert, je älter, desto besser. Die erste Verwendung des Begriffs der deutschen Nation findet sich im 15. Jahrhundert zur Zeit der Kreuzzüge.[3] Dabei ging es darum die „teutsche Nation“ oder auch „Natio Germanica“ vor „den Türken“, also dem Heer des Osmanischen Reiches, zu verteidigen. Bereits in den frühesten Verwendungen zeigt sich also, dass der Nationsbegriff mit der klaren Abgrenzung von einem Feindbild und der Absicht der Vernichtung des Feindes einhergeht. Wirklich relevant wurde die Idee der Nation aber erst im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution im 18. Jahrhundert. Die Religion und die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Herrscherhaus verloren ihre Rolle als höchste Werte und wichtigste Identifikationsmerkmale. An ihre Stelle trat die Nation als Kultur- und Abstammungsgemeinschaft.[4] Alle Forderungen und Opfer sind legitim, wenn sie zum „Wohle der Nation“ erbracht werden. Die Kirchen akzeptierten und unterstützten diese Entwicklung, ganz nach dem Gebot „Du sollst keinen anderen Gott haben neben Deiner Nation.“ In vielen Staaten waren die Kirchen klar nationalistisch ausgerichtet, teilweise ging der Gründung von Nationalstaaten die Gründung von Nationalkirchen voraus. Unterstellten sich die Kirchen nicht der Nation als höchstem Wert, so wurden sie staatlich bekämpft.[5] Die Idee eines eigenen Nationalstaates wurde zum Paradiesversprechen, die Nation zu einem neuen Gott, der blutige Opfer erforderte.

„Fatal ist mir das Lumpenpack, das, um die Herzen zu rühren,den Patriotismus trägt zur Schau, mit allen seinen Geschwüren.“
Heinrich Heine (1797 – 1856)

Ungefähr zu dieser Zeit entwickelte sich auch der Dreiklang „Ein Staat – Eine Nation – Ein Territorium“. Die Umsetzung dieses Ideals bedeutete Assimilation[6], Deportation und Ermordung all der Menschen, die nicht in das Bild der reinen Nation passten. Dass Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ein ethnisch relativ homogener Staat war, war das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Assimilations- und Unterdrückungspolitik gegenüber nationalen Minderheiten wie den Sorben*Sorbinnen, sowie des Genozids an Juden*Jüdinnen, Rom*nja und Sinti*zze, die ihren Höhepunkt in den Verbrechen des Nationalsozialismus fand. [7] Während letzteres in Deutschland einmalig war, sind brutale Assimilationspolitik und Genozide traurigerweise eine häufige Begleiterscheinung der Entstehung und des Erhalts von Nationalstaaten. Das ist keineswegs Zufall, sondern logisches Ergebnis der Idee eines einheitlichen Nationalstaates. Wenn nur eine klar definierte Gruppe auf einem bestimmten Gebiet leben darf, dann müssen andere Gruppen eben verschwinden, sei es durch Anpassung, Vertreibung oder Auslöschung. Wenn also ein alter Mann auf der Straße zischt „Hier wird Deutsch gesprochen!“ tut er das, weil er in der Gegenwart einer Sprache, die nicht Deutsch ist, einen Angriff auf seine einheitliche Nation sieht. Hier ist Deutschland, hier spricht man Deutsch und zwar NUR Deutsch. Und wenn das nicht so ist, dann muss es so werden. Das Andere bedroht die Nation durch seine Existenz und alle Mittel sind gerechtfertigt um die Nation, das Allerheiligste, zu schützen. Während der alte Mann nur zischt, jagen stolze, junge Deutsche den, der durch seine Existenz die Einheit der Nation bedroht, durch die Straßen und prügeln ihn blutig. Oder sie lassen ihm im kalten Behördendeutsch die Nachricht zukommen, dass er hier nicht zu leben hat und setzen ihn in ein Flugzeug, um ihn aus dem Körper der Nation zu entfernen.

Die Zugehörigkeit zur Nation entscheidet also über die Rechte eines Menschen und im Zweifelsfall gilt immer das Recht der Nation vor dem Recht des Einzelnen, sei er ihr zugehörig oder nicht. Da diese Zugehörigkeit meist über das völlig zufällige und unbeeinflussbare Kriterium von Geburtsort und Abstammung getroffen wird, produziert die Nation ständig Ausschluss und Ungleichheit. Auch eine Erweiterung des Kreises derjenigen, die als „der Nation zugehörig“ betrachtet werden, kann die Idee der Nation nicht abschaffen, sondern reproduziert sie nur. Es gilt also, die Kategorie der Nation als solche zu überwinden. Ein französisches Zitat lautet: „L’existence d’une nation est […] un plébiscite de tous les jours“[8], grob übersetzt: „Die Existenz einer Nation ist eine tägliche Wahl.“ Wenn die Existenz der Nation also eine Wahl ist, dann ist sich dieser Wahl tagtäglich zu verweigern. Für eine Zukunft, in der die Schrecken der Nation nur noch Relikte einer unverständlichen Vergangenheit, und nicht mehr die Brutalität der Gegenwart, sein werden.

[1] https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16503/nationalismus (abgerufen am 22.07.2020)

[2] https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/definition/ideologie/nationalismus/index.html (abgerufen am 22.07.2020)

[3] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 29

[4] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 17

[5] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 33

[6] Assimilation ist die Anpassung an eine andere Sprache und Kultur, sowie andere  Normen, Werte und Bräuche und die Aufgabe der eigenen. Dies kann freiwillig geschehen, erfolgt aber häufig auf Grund von staatlichem und gesellschaftlichen Druck und Sanktionen.

[7] Aus der jahrhunderte langen Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung von Juden und Jüdinnen ergab sich die Notwendigkeit einer Organisation zum Selbstschutz. In unserer von Nationalstaaten regierten Welt wird dieser Selbstschutz in Form des Staates Israel umgesetzt. Damit erfüllt Israel eine sehr wichtige Funktion zum Schutz konkreter Menschen. Wenn eine bestimmte Nation bzw. bestimmte Nationalismen kritisiert werden, ist es also wichtig, deren historische und gegenwärtige Funktion, sowie ihre Entstehungsgeschichte zu betrachten.

[8] Ernest Renan in seiner Rede „Qu’est-ce qu’une nation?“ an der Sorbonne (Paris), 1882