Glücksversprechen versus deutsche realität

Oder: Wieso hasst ihr Deutschland nicht alle?

Von der URA Dresden

Aufgnommen vom kollektiv_textegegndienation

Deutschland feiert sich immer noch und kaum eine*r stört sich daran. Nachdem die Ideen einer gerechten und freien Gesellschaft mit Füßen getreten wurden, galt mit dem Fall Mauer das Glücksver-sprechen der kapitalistischen Heilslehre nun auch für die, die im Schatten der Mauer 40 Jahre lang vermeintlich Mangel leiden mussten. Mit dem Fall des real existierenden Sozialismus und dem damit einhergehenden Ende der Geschichte[1]hat sich der Kapitalismus im Wettstreit der Ideologien angeblich durchgesetzt. Demokratie und Marktwirtschaft haben gewonnen – Diktatur, Willkür und Terror sind für immer überwunden.[2]Widersprüche im Hier und Jetzt? Gibt es nicht (mehr), die unsichtbare Hand wird es schon richten. Wenn wir einmal ausblenden, dass Fanatiker*in-nen im Namen Allahs und Arschlöcher wie beispielsweise Orbán, Putin und Erdoğan den Sieg über Diktatur, Willkür und Terror gekonnt ausblenden, und dass der Kapitalismus ein einziger Widerspruch in sich ist, wäre man fast geneigt den Prediger*innen des freien Marktes Recht zugeben. Egal! Nach der „Wende“ stand dem kleinen Bruder nun offiziell die ganze Welt offen, war der Plattensee nicht mehr das Ende der Welt und Bananen wuchsen nun das ganze Jahr auch in der Uckermark. Blühende Landschaften sollten „wieder“ entstehen, „in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“[3]Hier könnte jetzt die Frage gestellt werden, auf welchen Teil der deutschen Geschichte Kohl mit seinem „wieder“ abzielte, allerdings würde dies hier zu weit führen. Tat-sache ist, dass die aktuelle Etappe des deutschen Sonderweges mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gemütlichste und wohligste Etappe bisher ist. Seit 75 Jahren herrscht Frieden – auf deutschem Boden -, der bürgerlich-kapitalistische Rechtsstaat postuliert die Garantie von Freiheit und Demokratie und der hiesige Normalvollzug wird tatsächlich ohne größere Störungen aufrecht erhalten. Selbst eine Pandemie bringt die Deutschland AG, im Vergleich zu anderen Zwangsanstalten, nicht wirklich vom Kurs ab.

Bestes Schland ever? – Das Glücksversprechen …

In den hiesigen Breitengraden kann durchaus festgehalten werden, dass wir in Zeiten leben, die, objektiv betrachtet, noch nie so friedlich und propper waren wie die heutigen. Wie gesagt: Kein Krieg auf deutschem Boden seit 75 Jahren. Wenn du dir nur genug Mühe gibst, ein paar Grundregeln beachtest und mit angespitzten Ellenbogen durch das Leben gehst, kannst du hierzulande angeblich alles erreichen. Die Regale sind voll, Benzin ist billig und kik gleich um die Ecke. Hier, im Land der Gewaltenteilung, existiert auf dem Papier durchaus eine gerechte Gesellschaftsform, in der positive wie negative Freiheiten gewährleistet sind und Menschen – mit deutschem Pass – den Schutz ihrer Grundrechte zur Not auch einklagen können. Doch auch „Nichtdeutsche“ und Minderheiten genießen hierzulande einen nie dagewesenen Rechtsschutz, wenn auch der Schutz des Privateigentums immer noch allerhöchste Priorität besitzt. Politische Verfolgung, im großen Stil, gibt es auch nicht mehr, wieso auch? Dissidentes Verhalten – also im progressiven Sinne und nicht mit der Fahne des Reiches in der Hand und der Aluminiumbommel um den Hals – ist heutzutage nicht sonderlich en vogue[4] – man kann es sich ja schließlich schön gemütlich einrichten im Falschen. Auch wenn Corona uns allen so ein wenig ein Schnippchen geschlagen hat, nach dem Bewältigen der Krise wird es sicher nicht so lang dauern, dass uns der Arbeitsmarkt als entspannt und die offiziellen Arbeitslosenzahlen als vergleichsweise gering verkauft werden. Das ist gut, besteht doch in der (Lohn-)Arbeit – im Kontext des protestantischen Arbeitsethos – der Sinn des Lebens und größtmöglicher Quell persönlicher Glückseligkeit. Der deutsche Staatshaushalt ist relativ ausgeglichen und das soziale Netz, im Vergleich zu vielen anderen Ländern, immer noch recht engmaschig. Deutschland hat es endlich geschafft sich einen Platz an der Sonne zu verschaffen, die deutschen Einflusssphären sind so groß wie nie – und das alles ohne Angriffskrieg. Im politischen Wettstreit der Zwangsanstalten gibt Deutschland, zumindest in der EU, den Takt vor, und selbst als gütiger und gönnerhafter Helfer kann sich aufgespieltwerden, sind „wir“ doch sooo fleißig und die europäischen Vorzeigedemokrat*innen. Im Zuge der „Flüchtlingskrise“ konnte sich zu guter Letzt selbst Otto-Normal-Kartoffeln als Mutter Teresa aufspielen – das menschenverachtende Dahinsiechen in der Hölle Moria oder das jämmerliche Ersaufen im Mittelmeer sind für den Altruismus der Mehrheitsgesellschaft dann aber wohl doch zu weit weg.

… und die Realität

Alles gut also im Deutschen Haus? Mitnichten! Auch wenn sich das deutsche Kollektiv dank exportierter Arbeitslosigkeit und Lohndumping als Klassenbeste präsentiert, der Traum vom guten Leben, welches der Kapitalismus für alle bereit halten soll, ist längst ausgeträumt. Die unsichtbare Hand, lediglich bürgerlich-kapitalistische Ideologie: „Der Markt regelt sich selbst.“ „Ah. Deswegen bekommtdie Lufthansa Milliarden und der Gesundheitssektor lediglich Applaus.“ Gewirtschaftet wird nicht zum Wohle aller, sondern zur Kapitalakkumulation weniger. Das Glücksversprechen, eine Mär. Selbst der Spruch: „Jede*r kann reich werden, nur eben nicht alle.“ ist falsch. Es geht schon damit los, dass die Grundvoraussetzungen zur Glückssuche nicht sonderlich fair sind. Allein der Zugang zu (Aus-)Bildung ist abhängig von sozialem Stand und/oder vermeintlicher Herkunft. So sind die Hürden für einen Mehmet höher als die eines Christians, wenn es darum geht eine Ausbildung oder einen Job zu finden. Vor den selben Problemen stehen Kids aus prekären Verhältnissen. Hinzukommt, dass Frauen* in Sachen Lohn und Arbeitsbedingungen immer noch ungleich behandelt werden. In der Regel bekommen Frauen*, deren Aufgabe meist immer noch in der Reproduktion [5] gesehen wird, weniger Lohn für die selbe Arbeit als Männer. Zudem haben weiße Hetero-Männer nicht mit (Alltags-)Diskriminierung zu kämpfen. Aber auch das sogenannte Ost-West-Gefälle ist Realität, und das, gerade im Osten, beliebte Spiel Stadt-Land-Flucht steht den blühenden Landschaften nicht selten entgegen. Aber immerhin kannst du, zum Glück, überall hin, wenn du es dir leisten kannst. Über das Steuer- und Abgaben-system hierzulande wollen wir uns hier gar nicht erst groß auslassen. Doch halten wir kurz fest, dass Steuergerechtigkeit und Solidaritätsprinzip anscheinend Auslegungssache und sehr dehnbare Begriffe sind. Der bis heute wohl gelittene Sozialstaat wird immer weiter erodiert und verkommt zusehends zu einem Sanktionierungsapparat für die, die sich dem Verwertungsprozess nicht unterordnen können oder wollen. So wurde die sogenannte Hartz-IV-Regelung auch 2016 wieder verschärft und die Persönlichkeitsrechte der Hartz-IV Empfänger*innen weiter beschnitten. Naja, wenn das Leben, wie ständig propagiert, im Dienst der Arbeit zu verstehen ist, ist halt auch der Zwang zur Arbeit legitim. Aber auch Dritten, die sich der Auskunft über ihre ALG II beziehenden Mitbewohner*innen und Nachbar*innen verweigern, drohen bis zu 5ooo Euro Bußgeld.6Doch nicht nur Sanktionen und Bußgelder machen den „Unnützen“ zu schaffen. Hartzer*innen und Menschen in Lohn und Brot werden permanent gegeneinander ausgespielt, indem ständig das Bild der faulen, arbeitsscheuen Prolls reproduziert wird – „Asozialen-Sight-seeing“ erreicht im Privatfernsehen immer noch regelmäßig hohe Einschaltquoten – und denen, die nichts haben, die Schuld daran gegeben wird, dass der Sozialstaat schrumpft. Im Gegenzug wird auf diese Weise denen, die einer Lohnarbeit nachgehen, ständig vor Augen geführt, dass dieses Leben auch ihnen droht, wenn sie sich nicht einordnen – Sanktionen des Jobcenters und Hartz-IV-Dschungel als Drohkulisse. Die Angstmache vor dem sozialen Abstieg ist für Vater Staat zwar nützlich, aber auch gefährlich, da bei unzufriedenen Bürger*innen immer auch die Gefahr besteht, dass sie aufbegehren könnten. Um dem Vorzubeugen, gibt es das konstruierte „Wir“ der deutschen Werte- und Schicksalsgemeinschaft. Denn in dem unübersichtlichen, globalisierten Wettstreit der nationalen Zwangsanstalten, in dem „die Anderen“ an „unseren“ Honigtopf wollen, muss der Volkskörper, über jeden inneren Zwist und jegliche Ungleichvertei-lung hinweg, zusammenstehen. Denn: niemand beißt die Hand, die eine*n füttert! Und für den Notfall wird der Repressionsapparat ausgebaut – neue Polizeigesetze allenthalben – und die Polizei militärisch hochgerüstet. Die Vorbereitung für urbaneAufstandsbekämpfung in naher Zukunft, die durch die Klimakrise, oder irgend eine andere, Mad Max erlebbar machen wird. Aber wenigstens versichert uns der Heimathorst, dass der Repressionsapparat keine strukturellen Probleme hat, zumindest keine rassistischen. Puh! Allerdings brach sich große überraschung Bahn, als vor kurzem bekannt wurde, dass es hierzulande ein Problem mit Rechts und rechter Gewalt gibt. Selbst der Heimathorst und sein Verfassungsschutz warnten vor rechter Gewalt. Mit dem Erkennen und Benennen eben jener Rechter tut man sich allerdings noch schwer. Bisher erkennt man, wenn überhaupt, nur den sogenannten „Einzelfall“. Diese soll es übrigens auch in der Bundeswehr und der Polizei geben. Für uns ergibt sich spätestens hier ein Widerspruch zu Hotte Seehofers Blick auf die nicht existenten strukturellen Probleme der Exekutive, aber naja… Als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister haben wir die letzten 75 Jahre schließlich bewiesen, dass man menschenverachtende Einstellungen, Rassimus, Antisemitismus, … umgehen kann. Quasi, friedlich koexistieren.

Quo vadis?

Wir wollen hier nicht in Reformismus verfallen, Regulativ des Sozialstaates spielen oder gar mehr Staat fordern. Wir wollen Aufzeigen, wie weit Anspruch und Wirklichkeit des Hier und Jetzt auseinander klaffen! Ausgrenzung, Abwertung und Ungleichverteilung sind keine unschönen Zufälligkeiten. In einer Gesellschaftsordnung, die auf Ausbeutung und Konkurrenz basiert, sind diese Phänomene schlicht die logische Konsequenz eben jener Ordnung. Dies muss die radikale Linke schaffen in die Breite der Gesellschaft zu transportieren, ohne in verkürzte Erklärungsansätze zu verfallen. Wir wissen um die Tatsache, dass die „Revolution“, so wie wir sie uns wünschen, nicht
vor der Tür steht. Deswegen muss eine radikale Linke, will sie die Zustände zum Besseren hin
umwerfen, vom verranzten Elfenbeinturm runter und raus aus den Alternativen/Autonomen
Zentren. Auch wenn sichere Rückzugsräume im Kampf für eine bessere Welt unverzichtbar sind,
müssen wir uns den Widersprüchen zwischen den eigenen Ansprüchen und der Realität stellen und versuchen einen Umgang mit ihnen zu finden.

Ziel muss es sein, dem Katechismus des Kapitalismus etwas entgegenzusetzen, was dessen perfide Logik nicht nur für einige wenige transparent macht. Aber nicht nur. Es muss ebenso Ziel sein, dass Solidarität und Empathie wieder Praxis werden, nicht nur, wenn es mal wieder zum nächsten Soli-Cocktail-Stand geht. Trotz alledem dürfen wir dabei nicht den Fehler begehen hinter unsere eigenen Ansprüche und Standards zurückzufallen. Reformismus ist keine Alternative!

[1] Fukuyama, Francis, 1992: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir jetzt? München

[2] Denn was Gewalt ist und was nicht, bestimmt euer Gesetz. Und das ist es, dem niemand von uns traut!” Kapitulation B.o.N.n. , “die Abrechnung” Album: “Feuer” 2005

[3] http://www.helmut-kohl.de/index.php?msg=555

[4] Nein! (Neo-)Nazis, Pegida, AfD & Co. sind niemals dissident, da von „rechts“ keine radikale
Kritik an den bestehenden Zuständen kommen kann und deren Ideen immer Gewalt, Macht und
Herrschaft (re-)produzieren werden.

[5] Gemeint ist hier die Reproduktion von Leben, der Arbeitskraft des Mannes – durch Haushalt &
Co. – sowie der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft, durch Selbstoptimierung.

[6] https://www.jungewelt.de/2016/07-30/021.php