„Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.“ – May Ayim

Leipzig_Augustusplatz_3.10.1990_CDU Wahlveranstaltung mit
Kurt Biedenkopf

Welche Erinnerung haben wir an das Ende der DDR? Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir an den sogenannten „Fall“ der Mauer denken? Wer sind die „Helden“ der sogenannten Friedlichen Revolution, denen wir heute für ihr demokratisches Engagement danken? Und welches Gefühl verbinden wir – auch diejenigen, die die Jahre ´89/90 selbst gar nicht miterlebt haben – mit alldem?

Wir denken an die Aufnahmen aus der Tagesschau, an die montäglichen Großdemonstrationen, an Menschenketten und Friedensgebete, an Wessis und Ossis die sich die Hände reichen, um sich gegenseitig  über die Mauer zu hieven und schließlich an von Freudentränen verschmierte schwarzrotgelb geschminkte Gesichter am Brandenburger Tor, die im nationalen Einheitstaumel ihre gemeinsame Fahne schwenken. „Einheit“ – „Freiheit“ – „WIR“ – sind die dazugehörigen Schlagwörter.

Woran wir nicht so gerne denken ist, dass ebendieses neue „Wirgefühl“ auch neue Ausschlüsse brauchte, um sich seiner Identität sicher zu sein und einen erstarkenden Nationalismus produzierte. Brennende Geflüchtetenunterkünfte, Anschläge auf sogenannte Ausländerheime, „national befreite Zonen“, gezielte Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, Drohungen, Hetze und die Morde an Linken – um nur einige wenige Beispiele zu nennen von alldem, was aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt wurde.

Anfang 2020 rückten solche Erfahrungen unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre kurze Zeit in das Aufmerksamkeitsfeld der Öffentlichkeit – zu den dreißigsten Einheitsfeierlichkeiten in Potsdam werden sie voraussichtlich aber keine Rolle spielen: Die hegemoniale Wendeerzählung in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte; sie ist weiß, deutsch, christlich.

Im Folgenden möchten wir Personen vorstellen, die keinen Platz in ebendieser Erfolgserzählung haben; die Ausgrenzung, Hass und Gewalt, welche mit dem neuen Einheitsgefühl der Deutschen einhergingen, selbst erfahren haben. Die biografischen Ausschnitte sind Teil des Begleitheftes der Ausstellung Anderen wurde es schwindelig – 1989: Schwarz, Jüdisch, Migrantisch der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt a.M. in Zusammenarbeit mit spot_the_silence, Hito Steryl und Malte Wandel. Das Ausstellungsprojekt setzt sich im Rahmen unterschiedlicher Zugänge mit Wendeerzählungen abseits des hegemonialen Narrativs auseinander und zieht ganz bewusst eine Linie zur Gegenwart.

 

Uwe Dziuballa
* 1965, Karl-Marx-Stadt, DDR

Uwe Dziuballa verbringt seine Kindheit in Jugoslawien. Als Jugendlicher kehrt er zurück nach Karl-Marx-Stadt, ins heutige Chemnitz. Der Widerspruch zwischen dem antifaschistischen Selbstverständnis der DDR und einem alltäglich spürbaren Antisemitismus wird ihm früh bewusst. Auch er selbst ist mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert. Die Nachwendezeit in Chemnitz beschreibt er als eine Art rechtsfreien Raum, in dem sich rechtsradikale Strukturen ungehindert ausbreiten konnten. Als er nach einem Aufenthalt in den USA Mitte der 90er wieder nach Chemnitz zurückkehrt, ist er erstaunt, wie sehr die Unterschiede zwischen Ost und West noch zu spüren sind. Er gründet den deutschisraelisch- jüdischen Verein „Schalom“, der sich für jüdische Kultur und ein friedliches Miteinander in Chemnitz engagiert. Wenig später eröffnet er mit seiner Familie das jüdische koschere Restaurant „Schalom“, das immer wieder zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wird.

Die Stimmung in Chemnitz empfindet Uwe Dziuballa gegenwärtig als noch gereizter als in den 90ern. Er beobachtet, dass die Hemmschwelle, sich öffentlich menschenfeindlich zu äußern, in den letzten Jahren gesunken ist.

Mai-Phuong Kollath
* 1963, Hanoi, Vietnam

Mai-Phuong Kollath kommt mit achtzehn Jahren als Vertragsarbeiterin nach Rostock. Sie erlebt die prekären und reglementierten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter* innen. Ein Teil ihres Lohnes wird für die Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam einbehalten, der Rest darf weder gespart noch an Angehörige geschickt werden, sondern muss in vorbestimmte Waren investiert werden. Im Zuge der Wiedervereinigung verliert ein Großteil der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen ihre Arbeitsplätze. Sozialhilfe ist für sie nicht vorgesehen. Um in Deutschland bleiben zu können, sind sie häufig gezwungen, sich selbstständig zu machen. Angesichts zunehmender rassistischer Anfeindungen und Übergriffe herrscht ein Gefühl der Schutzlosigkeit vor. Im Jahr 1992 brennt das Wohnheim, in dem Kollath lange lebte. Über mehrere Tage wird unter Beifall von Rostocker Bürger*innen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen belagert. Neonazis aus ganz Deutschland reisen an. Die Gewalt eskaliert, auch, weil die Polizei nicht eingreift. Am dritten Tag wird das Wohnheim „Sonnenblumenhaus“ in Brand gesteckt, ein Großteil der Bewohner*innen war zuvor evakuiert worden. Noch in ihrem Versteck beschließen die Bewohner*innen die Gründung des Vereins „Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach“, um sich gegen Rassismus in Rostock stark zu machen. Noch heute streitet der Verein für ein öffentliches Gedenken an das Pogrom von 1992, in dem die Stimmen der Betroffenen im Mittelpunkt stehen.

Sanem Kleff
* 1955, Ankara, Türkei

Sanem Kleff erinnert daran, dass es im Westdeutschland der 80er erste Erfolge migrantischer Politik gab. Nach unseligen Diskussionen über „Gastarbeiter“ wurde erstmals über Deutschland als Einwanderungsland gesprochen. Daran knüpfte sich die Hoffnung auf ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht, Anerkennung von Berufsausbildungen und Antidiskriminierungsgesetze. Mit der Öffnung der Berliner Mauer schwindet diese Hoffnung. Die anfängliche Freude über den Mauerfall in migrantischen Communities weicht der Ernüchterung. Im vorherrschenden Klima finden die Forderungen nach Gleichberechtigung keine Aufmerksamkeit mehr. Die zunehmende rassistische Gewalt im Zuge der Wiedervereinigung erlebt Kleff auch in ihrem Beruf als Lehrerin. Klassenfahrten in den Osten Deutschlands sind für Schwarze, migrantische Schüler*innen und Jugendliche of Color eine reale Gefahr. Um Schüler*innen vor Angriffen organisierter rechter Jugendlicher zu schützen, fehlt jegliche Infrastruktur. Heute ist Sanem Kleff Vorsitzende des Vereins „Aktion Courage“ – gegründet 1992 als Reaktion auf den gewalttätigen Rassismus und Einheitsnationalismus mit den Pogromen und Brandanschlägen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Eines der bekanntesten Projekte des Vereins ist das Programm „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.

Patrice G. Poutrus
* 1961, Ost-Berlin, DDR

Der Historiker Patrice G. Poutrus spricht über die Veränderungen, die Mauerfall und Wiedervereinigung für die politische Kultur in der Bundesrepublik bedeuteten. Innerhalb weniger Wochen entsteht nach dem Mauerfall eine deutsch-deutsche Dynamik, die sich schnell zu einem Einheitsnationalismus entwickelt. Während Helmut Kohl im November noch zurückhaltend auf die Ereignisse in der DDR reagierte, verkündet er in seiner Dresdener Rede im Dezember 1989 unter „Deutschland einig Vaterland“-Rufen offensiv das Ziel der Wiedervereinigung. Mit der Wiedervereinigung verändern sich die politischen Kräfteverhältnisse. Forderungen nach einer stärkeren Abschottung gewinnen überall Mehrheiten. Im Jahr 1993 wird das Asylrecht verschärft.

Den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Gewalt nach der Wiedervereinigung sieht Poutrus als Fortsetzung der Tabuisierung rassistischer Gewalt in der DDR. Am Beispiel des Pogroms in Hoyerswerda 1991 führt er aus, dass Rassismus nicht benannt, Täter*innenperspektiven ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gestellt werden. Rassistische Gewalt in West und Ostdeutschland wird normalisiert, rechtsradikale politische Positionen werden zu legitimen Äußerungen im politischen Spektrum.

Einen kritischen Blick wirft Poutrus auf gegenwärtige Debatten um eine gemeinsam geteilte ostdeutsche Erfahrung nach der Wiedervereinigung, aus der die Gewalterfahrungen von Vertragsarbeiter*innen ausgeschlossen bleiben.

Olga Macuacua
* 1964, Chibuto, Mosambik

Olga Macuacua kam 1986 als Vertragsarbeiterin in die DDR. Zunächst wurde ihr ein Arbeitsplatz im Dresdener Fleischkombinat zugewiesen, den sie jedoch ablehnte, um in Freital in einem Glaswerk zu arbeiten. Durch den Mauerfall verlor sie diese Anstellung und ihren Platz im Wohnheim. Zunächst ging sie davon aus, nach Mosambik zurückkehren zu müssen. Ihr damaliger Partner und späterer Vater ihrer Kinder, ein angolanischer Vertragsarbeiter, erfuhr, dass es grundsätzlich möglich war, in Deutschland zu bleiben. Olga Macuacua und ihren Kolleg*innen hatte man dies nicht mitgeteilt. Ohne eine neue Arbeitsstelle waren ihre Papiere jedoch ungültig. Trotz behördlicher Widerstände und dem Erstarken rechter Gewalt entschied sich das Paar, in Dresden zu bleiben. Sie bezogen zunächst ein leerstehendes, baufälliges Haus. Mit Hilfe eines befreundeten Pfarrers fanden sie 1991 Ausbildungsplätze in der Krankenpflege. Ein einschneidendes Erlebnis ist die Ermordung eines Bekannten im selben Jahr – der ehemalige Vertragsarbeiter Jorge Gomondai wurde das erste Todesopfer rechter Gewalt in Dresden nach der Wiedervereinigung. Vierzehn Neonazis griffen Gomondai an und stießen ihn aus einer Straßenbahn. Der Tatort wurde 2007 zum Gedenken in Jorge-Gomondai-Platz umbenannt.

Das Begleitheft steht online zur Verfügung: https://www.bs-anne-frank.de/ausstellungen/anderen-wurde-es-schwindelig/

Die vollständige Ausstellung gibt es mittlerweile auch online: www.schwindelig.org

An dieser Stelle einen recht herzlichen Dank an die BS Anne Frank, die uns freundlicherweise genehmigt hat, ihr Material hier abzudrucken.

Was ist eigentlich das Problem mit Nationalismus?

Nationalismus wird unterschiedlich definiert, häufig aber als übersteigertes Nationalbewusstsein bezeichnet. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es zum Beispiel unter dem Stichwort „Nationalismus“: „Übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation. Im Gegensatz zum Nationalbewusstsein und zum Patriotismus (Vaterlandsliebe) glorifiziert der Nationalismus die eigene Nation und setzt andere Nationen herab. Zugleich wird ein Sendungsbewusstsein entwickelt, möglichst die ganze Welt nach den eigenen Vorstellungen zu formen.“[1] Ähnlich drückt sich das Bayrische Landesamt für Verfassungsschutz aus: „Nationalismus wird definiert als Ideologie, die die Merkmale der eigenen ethnischen Gemeinschaft (z.B. Sprache, Kultur, Geschichte) überhöht bzw. absolut setzt. Diese Ideologie gipfelt in dem übersteigerten Verlangen nach der Einheit von Volk und Raum.“[2] Nationalismus ist also zu viel. Er zeigt ein „übersteigertes Bewusstsein“, ein „übersteigertes Verlangen“ oder er „überhöht“. Schlecht ist also nicht das Nationalbewusstsein oder das Verlangen nach einem einheitlichen Nationalstaat, nein, schlecht ist in dieser Logik nur seine krankhafte Übersteigerung. Dies spiegelt sich auch in den häufigen Unterscheidungen von (gutem) Patriotismus und (schlechtem) Nationalismus. Dabei handelt es sich um eine ganz einfache Denkfigur: Wenn nur das „Extrem“, nur die „Übersteigerung“ kritisiert wird, dann muss die Grundlage nicht hinterfragt werden. Sowohl der Verfassungsschutz als auch die BpB fühlen sich schließlich einem Nationalstaat verpflichtet, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, bzw. dem Freistaat Bayern als einem Teil davon. Sie müssen also davon ausgehen, dass es eine nicht-übersteigerte, eine normale, eine gute Form von Zuneigung zur Nation gibt. Doch das Gift des Nationalismus, von dem sich mancher verzweifelt unter den Labels der „Vaterlandsliebe“, der „Heimatliebe“ oder des „Patriotismus“ abzugrenzen versucht, tropft bereits aus dem grundlegenden Konzept der Nation und lässt sich auch unter noch so vielen Versuchen nicht davon lösen. Nationalismus und Patriotismus (oder: „Vaterlandsliebe“) lassen sich also nicht einfach voneinander abspalten, im Gegenteil, es handelt sich um das gleiche Phänomen unter zwei verschiedenen Namen. Im Mittelpunkt des Wertesystems steht bei beiden die eigene Nation, die es gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen gilt.

Doch was ist eigentlich diese „Nation“? Das Wort Nation leitet sich vom Lateinischen „Natio“ ab, was „Geburt“ oder „Herkunft“ bedeutet. In dieser Wortherkunft zeigt sich bereits eine Eigenschaft, die später entscheidend für die Idee der Nation bzw. des Nationalvolkes wird, nämlich die Zugehörigkeit zu einer fest definierten Gruppe durch die Geburt, bzw. durch die Abstammung der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern… Die Nation ist also eine Abstammungsgemeinschaft, durch die Geburt wird das Individuum ihr zugehörig. Diese Abstammungsgemeinschaft wird rückwirkend konstruiert, je älter, desto besser. Die erste Verwendung des Begriffs der deutschen Nation findet sich im 15. Jahrhundert zur Zeit der Kreuzzüge.[3] Dabei ging es darum die „teutsche Nation“ oder auch „Natio Germanica“ vor „den Türken“, also dem Heer des Osmanischen Reiches, zu verteidigen. Bereits in den frühesten Verwendungen zeigt sich also, dass der Nationsbegriff mit der klaren Abgrenzung von einem Feindbild und der Absicht der Vernichtung des Feindes einhergeht. Wirklich relevant wurde die Idee der Nation aber erst im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution im 18. Jahrhundert. Die Religion und die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Herrscherhaus verloren ihre Rolle als höchste Werte und wichtigste Identifikationsmerkmale. An ihre Stelle trat die Nation als Kultur- und Abstammungsgemeinschaft.[4] Alle Forderungen und Opfer sind legitim, wenn sie zum „Wohle der Nation“ erbracht werden. Die Kirchen akzeptierten und unterstützten diese Entwicklung, ganz nach dem Gebot „Du sollst keinen anderen Gott haben neben Deiner Nation.“ In vielen Staaten waren die Kirchen klar nationalistisch ausgerichtet, teilweise ging der Gründung von Nationalstaaten die Gründung von Nationalkirchen voraus. Unterstellten sich die Kirchen nicht der Nation als höchstem Wert, so wurden sie staatlich bekämpft.[5] Die Idee eines eigenen Nationalstaates wurde zum Paradiesversprechen, die Nation zu einem neuen Gott, der blutige Opfer erforderte.

„Fatal ist mir das Lumpenpack, das, um die Herzen zu rühren,den Patriotismus trägt zur Schau, mit allen seinen Geschwüren.“
Heinrich Heine (1797 – 1856)

Ungefähr zu dieser Zeit entwickelte sich auch der Dreiklang „Ein Staat – Eine Nation – Ein Territorium“. Die Umsetzung dieses Ideals bedeutete Assimilation[6], Deportation und Ermordung all der Menschen, die nicht in das Bild der reinen Nation passten. Dass Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ein ethnisch relativ homogener Staat war, war das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Assimilations- und Unterdrückungspolitik gegenüber nationalen Minderheiten wie den Sorben*Sorbinnen, sowie des Genozids an Juden*Jüdinnen, Rom*nja und Sinti*zze, die ihren Höhepunkt in den Verbrechen des Nationalsozialismus fand. [7] Während letzteres in Deutschland einmalig war, sind brutale Assimilationspolitik und Genozide traurigerweise eine häufige Begleiterscheinung der Entstehung und des Erhalts von Nationalstaaten. Das ist keineswegs Zufall, sondern logisches Ergebnis der Idee eines einheitlichen Nationalstaates. Wenn nur eine klar definierte Gruppe auf einem bestimmten Gebiet leben darf, dann müssen andere Gruppen eben verschwinden, sei es durch Anpassung, Vertreibung oder Auslöschung. Wenn also ein alter Mann auf der Straße zischt „Hier wird Deutsch gesprochen!“ tut er das, weil er in der Gegenwart einer Sprache, die nicht Deutsch ist, einen Angriff auf seine einheitliche Nation sieht. Hier ist Deutschland, hier spricht man Deutsch und zwar NUR Deutsch. Und wenn das nicht so ist, dann muss es so werden. Das Andere bedroht die Nation durch seine Existenz und alle Mittel sind gerechtfertigt um die Nation, das Allerheiligste, zu schützen. Während der alte Mann nur zischt, jagen stolze, junge Deutsche den, der durch seine Existenz die Einheit der Nation bedroht, durch die Straßen und prügeln ihn blutig. Oder sie lassen ihm im kalten Behördendeutsch die Nachricht zukommen, dass er hier nicht zu leben hat und setzen ihn in ein Flugzeug, um ihn aus dem Körper der Nation zu entfernen.

Die Zugehörigkeit zur Nation entscheidet also über die Rechte eines Menschen und im Zweifelsfall gilt immer das Recht der Nation vor dem Recht des Einzelnen, sei er ihr zugehörig oder nicht. Da diese Zugehörigkeit meist über das völlig zufällige und unbeeinflussbare Kriterium von Geburtsort und Abstammung getroffen wird, produziert die Nation ständig Ausschluss und Ungleichheit. Auch eine Erweiterung des Kreises derjenigen, die als „der Nation zugehörig“ betrachtet werden, kann die Idee der Nation nicht abschaffen, sondern reproduziert sie nur. Es gilt also, die Kategorie der Nation als solche zu überwinden. Ein französisches Zitat lautet: „L’existence d’une nation est […] un plébiscite de tous les jours“[8], grob übersetzt: „Die Existenz einer Nation ist eine tägliche Wahl.“ Wenn die Existenz der Nation also eine Wahl ist, dann ist sich dieser Wahl tagtäglich zu verweigern. Für eine Zukunft, in der die Schrecken der Nation nur noch Relikte einer unverständlichen Vergangenheit, und nicht mehr die Brutalität der Gegenwart, sein werden.

[1] https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16503/nationalismus (abgerufen am 22.07.2020)

[2] https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/definition/ideologie/nationalismus/index.html (abgerufen am 22.07.2020)

[3] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 29

[4] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 17

[5] Dieter Langewiesche. Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, S. 33

[6] Assimilation ist die Anpassung an eine andere Sprache und Kultur, sowie andere  Normen, Werte und Bräuche und die Aufgabe der eigenen. Dies kann freiwillig geschehen, erfolgt aber häufig auf Grund von staatlichem und gesellschaftlichen Druck und Sanktionen.

[7] Aus der jahrhunderte langen Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung von Juden und Jüdinnen ergab sich die Notwendigkeit einer Organisation zum Selbstschutz. In unserer von Nationalstaaten regierten Welt wird dieser Selbstschutz in Form des Staates Israel umgesetzt. Damit erfüllt Israel eine sehr wichtige Funktion zum Schutz konkreter Menschen. Wenn eine bestimmte Nation bzw. bestimmte Nationalismen kritisiert werden, ist es also wichtig, deren historische und gegenwärtige Funktion, sowie ihre Entstehungsgeschichte zu betrachten.

[8] Ernest Renan in seiner Rede „Qu’est-ce qu’une nation?“ an der Sorbonne (Paris), 1882

RE:KAPITULATION: 30 JAHRE DEUTSCH-DEUTSCHE EINHEIT

vom Bündnis re:kapitulation aus Potsdam

Bild von teilweise heruntergekommenen Plattenbauten
Aufgenommen vom kollektiv_textegegendie nation

Der Nationalfeiertag steht vor der Tür – Deutschland feiert 30 Jahre Einheit. Trotz Corona-Pandemie und Power-Krisenmanagement versuchen Bund und Land Brandenburg irgendwie „würdig und angemessen“ den nationalen Mythos einer friedlichen Revolution zu begehen, die ein armes geteiltes Land im braven Beischlaf wieder vereinen ließ.

Das große Bürgerfest mit Deutschland-Fanmeile ist pandemiebedingt abgesagt. Das Land plant dezentrale, teils digitale Alternativen.
Gut für uns als radikale Linke – denn jetzt können diese Tage um so mehr „uns“ gehören! Wir haben einiges in Planung und werden in den kommenden Monaten flexibel planen, wie die jeweilige Umsetzung aussehen wird. Es lohnt in jeden Fall, sich die Tage freizuhalten.

Als Potsdamer Bündnis „Re:kapitulation. Kein Ende der Geschichte“ stellen wir uns dem schwarz-rot-goldenen Taumel entgegen – auf der Straße, im Alltag und digital. Für uns ist klar, es gibt hier nichts zu feiern!

Kein Ende der Geschichte

Es gibt Leute, die behaupten, wir hätten das Ende unserer Geschichte schon längst erreicht. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, rief im Jahr 1989 das Bonmot vom „Ende der Geschichte“ aus, das gewissermaßen zu einem bundesrepublikanischen Dogma der staatlichen Geschichtsaufarbeitung avancierte: Das Zeitalter der Extreme sei vorbei und wir seien nun endlich angekommen. Der Untergang des Realsozialismus mit der Beseitigung des angeblich letzten vermeintlichen Widerspruches zur Dominanz des kapitalistischen Staatenblocks mit seiner „freien“ Marktwirtschaft. Während das Publikum Tag ein Tag aus mit Nachrichten vom drohenden Klimakollaps, Revolutionen und Konterrevolutionen, verheerenden Bürgerkriegen, ökonomischen Verwüstungen, Pandemien und individuellem Elend behelligt wird und den Kopf schütteln mag über den Wahnsinn, der sich vor seinen Augen abspielt, möchte man es darüber belehren, dass nichts grundlegendes mehr passieren wird.

Es müssen an dieser Stelle nicht viele Worte über die tiefgreifenden und zum Teil verheerenden Konsequenzen verloren werden, welche die sogenannte Wende für die millionenfachen Lebensverhältnisse der ehemaligen DDR-Bürger*innen hatte. Es reicht festzuhalten, dass die Herrschaft des „sozialistischen“ Eigentums und seiner autoritären Führung durch die Herrschaft des Privateigentums und seiner bürgerlichen Führung abgelöst wurde. Auf Pest folgt Cholera. Und während die neue Führung den Fall der Mauer – das Repressions- und Schutzinstrument des sozialistischen Eigentums – frenetisch feiert, schickt sie ihre Sicherheitsdienste und Grenzschutzbeamte auf Patrouille, macht es sich hinter den Mauern und Zäunen ihrer Privatanwesen heimelig, riegelt ganze Kontinente ab, und wird nicht müde zu beschwören, dass die Freiheit des Privateigentums die Bedingung der Freiheit überhaupt sei. Der große kalte Krieg der Blöcke wurde abgelöst durch den immerwährenden Krieg der Privateigentümer und deren Interessensvertreter*innen. Dieser Krieg reicht vom klassischen Nachbarschaftsstreit, über den „Kampf um den Arbeitsplatz“ bis zum Kampf gegen „illegale Einwanderung“, oder besser, zu dem Krieg gegen Arme und Bedürftige im Allgemeinen. Für wen dieser elende Zustand dem Ende der menschlichen Geschichte gleichkommt, der verwechselt die Geschichte mit seinem Verstand und wenn das nicht, mit seinem Klasseninteresse.

Dass nicht die Geschichte am Ende ist, sondern vielmehr die Geschichtserzählung dieses Staates, zeigt sich schlagend daran, dass auch 30 Jahre nach dem Sturz der DDR-Führung dieser Fakt eine der zwei Säulen der offiziellen BRD-Ideologie bildet.
Säule eins: Wir sind keine Nazis (mehr)! – immerhin, wenn auch allerhöchstens halb wahr.
Säule zwei: Wir haben die DDR überlebt! – und das, obwohl wir sie noch 1983 und 1984 mit Milliardenkrediten gestützt haben. Chapeau!
Dieser kümmerliche Staatsmythos ist noch erbärmlicher, wenn man bedenkt, dass es keine auch nur im Ansatz wirkmächtige Opposition gibt, die eine sozialistische Gesellschaft fordert, geschweige denn die DDR zurückhaben möchte.

Viel mehr als den Triumph über den an den eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen Realsozialismus, kann dieser Staat nicht für sich verbuchen.
Insbesondere keine soziale und keine ökonomische Sicherheit. Diese beiden Fundamente eines guten Lebens wurden ordentlich zurechtgestutzt um einerseits das Privateigentum vom Ballast der „sozialen Verantwortung“ zu befreien und andererseits die vom Sozialismus befreite Arbeiter*innenklasse mit der Agenda 2010 auf ihre minderwertige Rolle als Humankapital und devote Bittsteller*innen einzupolen.
Damit aber nicht genug. Der Raub- und Rachefeldzug des (deutsch-deutschen) Kapitals gegen die „soziale Verantwortung“ war und ist begleitet von einer neuen „internationalen Verantwortung“. Seitdem man sich des offensichtlichen Brandmahls des Deutschen Vernichtungskrieges entledigen konnte und endlich als „einig Vaterland“ wieder zum Tagesgeschäft übergehen durfte, darf die deutsch-deutsche Beteiligung an grauenhaften Militärabenteuern ebenfalls kein Tabu mehr sein. Wobei man die deutsch-deutschen Truppen nunmehr wegen und nicht mehr für oder trotz Auschwitz mobilisiert. Das klingt auch gleich viel humaner. Und so darf der Meister der Aufarbeitung endlich wieder — und diesmal ganz gewiss europäische (!) – Kapitalinteressen militärisch stützen und durchsetzen. Konsequent insofern auch, als dass es sich bei diesen Unternehmungen abermals um alles, nur nicht um siegreiche Militäroperationen handelt: Kosovo, Afghanistan, Senegal, Mali, Südsudan, Syrien. Und wer aus diesen Elendsregionen abhauen will, den*die erwartet bereits die deutsch-deutsche Kriegsmarine im Mittelmeer und der detusch-deutsche Bundespolizist im Auffanglager.
Es bleibt in dieser lockeren Aufzählung der bundesrepublikanischen Errungenschaften der letzten 30 Jahre noch die europäische Integration zu erwähnen. Der naive Versuch, die deutsch-deutsche Dominanz durch wirtschafts- und währungspolitische Einbindung zu fesseln oder sogar zu brechen ist gründlich gescheitert. Während das deutsch-deutsche Kapital seine feindlichen EU-Geschwister in Grund und Boden konkurriert und sich periodisch als Weltmeister der Weltmarktschlacht rühmt und gerade deshalb den europäischen Zusammenhalt beschwört, ist es unter keinen Umständen bereit, seine ruinierten Bundesgenoss*innen an diesem wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu lassen. Und so zwingt man seinen europäischen Freund*innen verheerende Sparmaßnahmen auf, belehrt sie über ihre Dekadenz und fordert sie dazu auf, ihre Arbeiter*innen ebenso schäbig sozial zu reformieren, wie man es hierzulande längst gewohnt ist. Wir werden sehen, welche gesellschaftlichen Eruptionen diese Dynamik noch bereithalten wird.

Unter diesen Umständen ist es nur zu verständlich, dass die Bundesoffiziellen mitsamt ihren Hofchronist*innen Daten wie den „Tag der Deutschen Einheit“ so überschwänglich feiern und ihres tatsächlichen historischen Gehalts berauben.
Unter diesen Umständen wird ebenso die Ansicht verständlich, dass mit der deutsch-deutschen Einheit die deutsch-deutsche – und mit ihr die menschliche – Entwicklung, in ihr Endstadium gelangt sei. Denn in jeder Herrschaftsform wird immer dann das Ende des bis dahin notwendigen Kampfes um die Herrschaft verkündet, wenn die Bedingungen ihrer eigenen hergestellt sind; gerade weil alle wissen, dass in Wahrheit nichts zu Ende ist.

Von einer solchen Geschichte vom Ende muss sich jeder denkende Mensch mit Blick auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abgestoßen fühlen. Selbst Herr Fukuyama möchte in Anbetracht der Weltlage mittlerweile falsch verstanden worden sein. So habe er das alles gar nicht gemeint. Er habe lediglich Karl Marx kritisieren wollen, der behauptet habe, der Marxismus sei das Ende der Geschichte. Dabei ist Marx ausdrücklich der Ansicht, dass mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ und nicht deren Geschichte abgeschlossen sei. Für ihn machen wir tatsächlich noch überhaupt keine eigene Geschichte, sondern werden umgekehrt von ihr getrieben und gemacht. Für einen wie Marx hat die Zukunft sehr viel mehr zu bieten als den alltäglichen Kampf und das immergleiche Grauen, dass die Gesellschaft der Privateigentümer für die Mehrheit auf diesem Planeten bedeutet. Und auch wir hoffen und treten dafür ein, dass sie mehr bereit hält, als die hohlen und verlogenen Phrasen über Einigkeit und Recht und Freiheit, in der wir angeblich leben.

Denn wir wissen, dass es keine Einigkeit geben kann, solange die Mehrheit Arm und die Minderheit reich sein muss. Wir wissen, dass es keine Gerechtigkeit geben kann, solange das Recht diesen Gegensatz schützt. Und wir wissen, dass es solange keine Freiheit geben kann, solange Menschen massakriert und drangsaliert werden, weil ihre schicksalhafte Zugehörigkeit zu einem Staatsmoloch mehr zählt, als ihre Bedürftig- oder Hilflosigkeit. Und da wir wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen ungeheuren Wahnsinn für ihre Fortexistenz braucht, sagen wir nach 30 Jahren deutsch-deutscher Einheit:

Der Anfang der Geschichte bedeutet das Ende von Deutschland.

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Das kollektiv_textegegendienation

Wir, das kollektiv_textegegendienation, sind eine Gruppe junger, linksradikal sozialisierter Menschen, aus verschiedenen politischen Kontexten in Leipzig. Im Februar diesen Jahres haben wir uns anlässlich der bevorstehenden Feierlichkeiten in Potsdam zum dreißigsten Jahrestag der Deutschen Einheit zusammengefunden, um dem nationalen Freudentaumel eine kritische Stimme entgegenzusetzen.
In Form eines Zines haben wir teils von uns, teils von anderen Gruppen verfasste Texte versammelt, die mit der Erfolgserzählung, als welche die (Nach-)Wendegeschichte nur allzu oft verkauft wird, brechen und rassistische, autoritäre, deutsche Zustände anprangern sollen.
Mit diesem Projekt möchten wir ganz konkret das Bündnis Re:kapitulation (einen Link zu deren Website hier: https://www.re-kapitulation.org) aus Brandenburg unterstützen und dazu motivieren, sich dem Protest gegen die Einheitsfeierlichkeiten am 3. Oktober in Potsdam anzuschließen. Auch wenn diese aufgrund der aktuellen Beschränkungen nicht wie geplant stattfinden werden können, so gilt es dennoch an diesem Tag Präsenz zu zeigen. Einen Link zum Aufruf findet ihr hier: https://www.re-kapitulation.org/#absage
30 Jahre „Deutsche Wiedervereinigung“ liefern für uns (mindestens) 30 Gründe nicht zu feiern. Ein paar davon möchten wir euch hier in Form von Ausschnitten aus unserem Zine präsentieren.
In gedruckter Form soll das Zine ab Ende September gegen eine Spende erhältlich sein. Bis dahin könnt ihr unsere Arbeit durch den Erwerb eines bedruckten Solibeutels (10 Euro/Stück) unterstützen. Ask your local Dealer. Das Beutelmotiv findet ihr hier:
Bei Anmerkungen und Fragen schreibt uns gerne eine Mail an: kollektivtextegegendienation[at]riseup.net
oder via Instagram: https://www.instagram.com/kollektivtextegegendienation/
Für die Förderung wollen wir uns ganz herzlich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem FSR Geschichte der Universität Leipzig bedanken.
(Das Logo des FSR Geschichte folgt in Kürze)